Kultur

Marco Blaauw spielte mit der Doppeltrompete "I can’t breathe" von Georg Friedrich Haas. (Foto: Florian Ganslmeier)

20.07.2020

Erschütternd aktuell

Das erste Publikumskonzert vom Münchener Kammerorchester wird lange nachwirken

Der Horror ist geradezu greifbar. Am Ende des Stücks röchelt die Trompete nur noch, bis sie ganz erstickt. Zuvor füllen freie Kantilenen einen zwölftönigen Raum. Es ist ein Trauergesang, der stets Ausdruck und Farbe wechselt. So klingt das Stück I can’t breathe von Georg Friedrich Haas. Mit diesem Trompeten-Solo von 2014 startete das Münchener Kammerorchester (MKO) sein erstes Publikumskonzert nach dem Corona-Lockdown.

Schon allein dieses Werk war in mehrfacher Hinsicht erschütternd aktuell. Der österreichische Komponist gedenkt mit dieser Musik dem Afroamerikaner Eric Garner. Bei einer US-Polizeiaktion war dieser 2014 zu Unrecht für einen Schwarzhändler gehalten worden. Bei der Festnahme wurde ihm der Hals abgedrückt. „Ich kann nicht atmen“, flehte der Asthmatiker, bevor er starb. Die beteiligten Polizisten mussten sich nicht einmal vor Gericht verantworten. Der Fall Garner hatte im Sommer 2014 ähnlich hohe Wellen geschlagen wie aktuell der Tod von George Floyd.

In der Corona-Pandemie ist die Aktualität um einen weiteren Aspekt gesteigert: Wie Ärzte berichten, erleiden sterbende Corona-Patienten einen qualvollen Erstickungstod.

Das schlicht atemberaubende, intensive Spiel von Marco Blaauw nahm gefangen. Für ihn hatte Haas das Werk geschrieben. Um die schnellen Dämpferwechsel zu ermöglichen, brachte Blaauw seine Doppeltrompete mit.

Von der Extremsituation, die momentan die ganze Welt erfasst, war das gesamte MKO-Konzert im Carl-Orff-Saal des Münchner Gasteigs unter dem Chefdirigenten Clemens Schuldt geprägt. So spiegelte sich auch im Streichtrio Genesis I: Elementi von 1962 des Polen Henryk Górecki ein lähmendes Entsetzen wider. Górecki Er ist vor allem bekannt für seine „Lamento“-Sinfonie Nr. 3 von 1976. Hier aber entwirft er verstörend heulende Glissandostrukturen, die in grellen Clusterklangwolken verdichtet werden. Aus diesen Extremklängen haben Yuki Kasai (Violine) sowie Kelvin Hawthorne (Bratsche) und Bridget MacRae (Cello) einen packenden Hörkrimi gemacht.

Damit war auch eine Brücke zu Voile für 20 Streicher von Iannis Xenakis von 1995 geschlagen. Auch hier beschwören Clusterstrukturen eine unbezwingbare Energie herauf. Dazwischen wirkte das Quiet City für Trompete (Blauuw), Englischhorn (Sergio Sánchez) und Streicher von Aaron Copland wie ein Flehen um Entspannung. Gleichzeitig verdeutlicht allein der Titel des 1940 entstandenen Werks, wie weit wir in Corona-Zeiten noch immer von Normalität entfernt sind. Jedenfalls wirken manche Orte weiterhin wie ausgestorben: von Geschäftigkeit keine Spur. Diese wird wiederum im quasi-minimalistischen Aheym für Streicher von Bryce Dessner von 2009 heraufbeschworen. Die sich stets wandelnden Loops entwickelen einen ungeheuren, insistierenden Sog.

Einmal mehr hat das MKO mit einem klugen Programm erschütternd aktuelle Diskurse freigesetzt. Dieses Konzert klingt lange nach. (Marco Frei)

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