Kultur

Im Archivwesen hat Margit Ksoll-Marcon ihren Traumberuf gefunden. Dabei gilt ihr leidenschaftliches Interesse dem historischen Schriftgut ebenso wie dem Umgang mit E-Akten. (Foto: Generaldirektion der Staatlichen Archive)

29.07.2022

Eyecatcher und E-Akte

Margit Ksoll-Marcon, die Generaldirektorin der Staatlichen Archive Bayerns, verabschiedet sich in den Ruhestand mit einem flammenden Plädoyer fürs Archivwesen

Erstmals war eine Frau auf den obersten Posten in Bayerns Archivlandschaft berufen worden – das war 2008. Aber die Genderfrage hat für Margit Ksoll-Marcon keine Rolle ge- spielt. Vielmehr war es die E-Akte, die sie herausforderte. Deren Einführung in den Staatlichen Archiven setzte sie konsequent um. Ihre Karriere beendet sie mit Sorgen um die Bewältigung der stark gewachsenen Aufgaben.

Sie ist in abendlicher Dunkelheit ums Haus geschlichen, drei- oder viermal: „Ich wollte sehen, ob da wirklich Leute sind“, begründet Margit Ksoll-Marcon verschmitzt lächelnd ihren ungewöhnlichen Kontrollgang. „Und es waren tatsächlich Nachtwanderer da, obendrein nicht gerade wenige“, freut sich die Generaldirektorin über das, was sich im Herbst 2021 vor ihrem Amtssitz abspielte. Nachtlichter. Vom Dunkel ans Licht hieß damals eine mehrwöchige Lichtinstallation, die das Staatsarchiv München in der Schönfeldstraße in ein ebenso neues wie neugierig machendes Licht rückte. Archivalien, von deren Existenz die Öffentlichkeit meist keine Ahnung hat, gelangten so aus den Magazinen ins Rampenlicht – und erhielten obendrein eine Stimme: Über Lautsprecher und mittels App konnte man das Spektakel auch als akustische Inszenierung erleben.

Mehr Hingucker

„Wir brauchen mehr solche Eyecatcher, um zu zeigen, welch herausragendes Kulturgut wir verwahren“, fordert Margit Ksoll-Marcon, die seit 2008 als Generaldirektorin allen staatlichen Archiven im Freistaat vorsteht. Jetzt geht sie in den Ruhestand – und ohne die geringste Spur von Amtsmüdigkeit hält sie ein flammendes Plädoyer für das Archivwesen und sieht in ihrem Posten an dessen Spitze durchaus die Gestaltungsmöglichkeiten im Rahmen des Möglichen.

Wer sich in diesem Kontext die Archivexpertin vorstellt mitten unter schön verzierten Urkunden oder zwischen Schriftstücken, die von großen Kriegen und kleinen Nachbarschaftsstreitigkeiten handeln, die spektakuläre Kriminalfälle enthüllen und von Eskapaden der High Society ebenso wie vom Drangsal armer Schlucker erzählen – wer also glaubt, dass Margit Ksoll-Marcon ihre Gestaltungslust in und an solchen Archivschätzen auslebt, liegt gründlich falsch. „E-Akte“: Dieser spröde Terminus ist es, der sie in Bann zog. Und sollte sie jemals ein Buch schreiben wollen, sagt sie, dann genau über die E-Akte.

Bayerns erstes Archivgesetz

Ihre ganze berufliche Karriere war geprägt vom Umbruch durch die Digitalisierung. „Eigentlich ging das schon mit der Dissertation an“, überlegt sie rückblickend. „Hat man sich eine Schreibkraft für die Reinschrift geleistet oder hatte man schon selbst Zugang zu einem PC?“ Bis sie einen solchen auf ihrem Schreibtisch im Archiv hatte, dauerte es freilich noch eine Weile: Nach ihrer Promotion an der Ludwig-Maximilians-Universität München 1985 wirkte die in Altötting geborene Historikerin zunächst projektbezogen im Hauptstaatsarchiv mit: Noch unter ganz konventionellen Bedingungen mit Schreibmaschine, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert, waren die Akten zum Reichskammergericht zu erschließen. Sie fing Feuer fürs Metier und absolvierte den nächstmöglichen, damals noch dreijährigen Kurs an der Bayerischen Archivschule.

Mitten in dieser Zusatzausbildung, 1989, wurde ein Bayerisches Archivgesetz verabschiedet: Darin ist festgehalten, dass auch elektronische Informationen und Datenträger von den Archiven zu übernehmen sind – „das war ein eindeutiges Signal. Jetzt hieß es aufpassen!“, erinnert sich Margit Ksoll-Marcon. Die Archivschule schloss sie 1991 ab und wurde ins Hauptstaatsarchiv übernommen. „Um diese Zeit gab es dann auch den ersten PC im Hauptstaatsarchiv – wohlgemerkt einen!“ Die Erschließung der Akten per Schreibmaschine auf Karteikarten lief aus – der Archivkatalog wurde fortan sukzessive elektronisch erstellt. Natürlich gab es bald mehrere PCs.

Peinliches Schlüsselerlebnis

Margit Ksoll-Marcons Arbeitsschwerpunkte am Hauptstaatsarchiv galten der Aktenerschließung und der Benutzerberatung. 1998 wechselte sie in die Generaldirektion: als Referentin für Aktenübernahme und Bewertung. 2005 ging sie zurück ans Hauptstaatsarchiv als Leiterin der Abteilung Neuere Bestände. Zwei Jahre später übernahm sie in der Generaldirektion die Abteilung Bestandserhaltung, Forschung und Veröffentlichung. 2008 wurde sie zur Generaldirektorin berufen.

In all den Jahren verfolgte sie aufmerksam das Fortschreiten der Digitalisierung in der Verwaltung. Und dann ihr Schlüsselerlebnis: „Bei einer Veranstaltung zur elektronischen Aktenführung in der Verwaltung wurde ich unversehens gefragt, welches System wir denn in der Archivverwaltung verwenden würden. War mir das peinlich, als ich gestehen musste: gar keines!“ Und dabei hätten die Archive doch per Gesetzesauftrag sogar eine gewisse Vorbild- und Leitungsfunktion, weil sie die Verwaltungen in Angelegenheiten der Aktenführung beraten sollen.

„Für mich stand außer Frage: Wir brauchen schnellstmöglich die E-Akte. Und zwar zuerst in der Generaldirektion. Ich wollte selbst sehen, wie sie funktionieren, was die Umstellung bedeutet, wo es Probleme gibt.“ Ihre generalstabsmäßige Vorgabe: Die Umstellung sollte als Sprung ins kalte Wasser erfolgen – von einem Tag auf den anderen sollte die Schriftgutverwaltung ausschließlich elektronisch erfolgen. Zweigleisigkeit hätte ihrer Ansicht nach nur zu Kompliziertheit und unnötiger Verwirrung geführt. Eine interne Arbeitsgruppe bereitete die Umsetzung akribisch vor, begleitende Fachunterstützung gab es durch das CC-DMS bei der Regierung von Schwaben.

Natürlich hakte es, als 2010 zunächst in der Generaldirektion und in den folgenden rund eineinhalb Jahren alle staatlichen Archive auf die E-Akte umgestellt wurden. Arbeitsweisen und der Workflow änderten sich. „Früher habe ich eine Akte aufgeschlagen, einen Vermerk angebracht und auf einen Blick gesehen, wer an was arbeitet oder worum es sich handelte. Bei der E-Akte muss man dafür erst mehrmals klicken. Das erschien umständlich und schnell wurde nach dem Mehrwert gefragt.“ Aber dieser kristallisierte sich bald heraus: „Allein die Recherchemöglichkeiten! Mit einem Klick kommt man sofort zu den Akten, muss sich nicht erst zeitaufwendig Registraturgut vorlegen lassen. Man kann sich parallel auch mehrere Schriftstücke ansehen.“

„Heute kann sich niemand mehr bei uns vorstellen, noch analog arbeiten zu müssen“, versichert die Generaldirektorin. Das war auch ein Vorteil während der Corona-Pandemie. „Der Zugriff auf die E-Akte ist auch aus dem Homeoffice möglich, es lassen sich auch von dort sehr gut schriftliche Anfragen erledigen. Nur wenn sie die Einsichtnahme in Originalakten betrafen, mussten wir während der Lockdown-Bestimmungen passen.“ Den zum Teil ruhenden und später eingeschränkten Besucherverkehr nutzte man in den Archiven für längst fällige Aufgaben, zu denen man sonst kaum kommt: zum Beispiel die Einspeisung analoger Findbücher ins elektronische Erschließungssystem.

Ein Tsunami droht

Das Personal- und Zeitmanagement auch jenseits von Pandemiebeschränkungen treibt Margit Ksoll-Marcon besonders um – selbst wenn sie über ihre Amtszeit hinaus und an das denkt, was droht: „In den nächsten fünf bis zehn Jahren wird eine ungeheure Menge an Verwaltungsakten an uns übergeben werden, sodass wir unseren gesetzlichen Auftrag mit dem aktuellen Personalstamm kaum erfüllen werden können.“

Was bevorsteht, ist nämlich die Aktenabgabe der Behörden und öffentlichen Verwaltungen sowohl in Papierform als auch in E-Versionen. Die Abgabe erfolgt laut Archivgesetz in der Regel nach 30 Jahren, manchmal auch schon früher. Das bedeutet, dass parallel zu einer Flut von analogem Material (jährlich drei bis vier Regalkilometer) demnächst erste E-Akten in den Archiven eintreffen, für die derzeit Übergabeschnittstellen programmiert werden. Viele Verwaltungen haben in der Übergangsphase hybrid gearbeitet, viele Mails wurden ausgedruckt und wie gewohnt in Ordnern abgelegt – zusätzlich zu elektronischen Ablagen. „Eine herausfordernde Parallelität“, fasst Margit Ksoll-Marcon knapp zusammen, was man mit einem Tsunami beschreiben möchte, der noch viele Folgeprobleme mit sich bringen kann.

Akten verlässlich bewerten

Einfach in den realen oder den virtuellen Keller verschieben geht nicht, ein „aus den Augen, aus dem Sinn“ dürfen sich Archive nicht erlauben: „Wir sind verpflichtet, die übernommenen Unterlagen nicht nur aufzubewahren, sondern auch zu erschließen, also zu verzeichnen. Zudem müssen wir die Unterlagen zugänglich machen. Was wir übernehmen, muss auffindbar und benutzbar sein.“

Dem vorgeschaltet ist die Bewertung, was überhaupt übernommen und was vernichtet werden kann. „Be nice to archivists, they can erase you from history!“: Was auf Aufklebern zu lesen ist, warnt natürlich nur scherzhaft. Mit persönlichem Gusto und freundlicher Behandlung hat diese eminent wichtige Aufgabe nichts zu tun: „Wir müssen jederzeit begründen können, warum wir etwas für die Nachwelt aufheben oder eben nicht. Und das Ganze auch transparent machen“, insistiert Margit Ksoll-Marcon und betont die Verantwortung der Archive als „Gedächtnis eines Landes“.

Wie entscheidet man, welche Erinnerungen aus dem Zeitalter der Informationsflut kommenden Generationen erhalten werden sollen? „Anders, als mancher vielleicht meint, arbeiten Archivarinnen und Archivare nicht nur rückwärtsgewandt, sondern müssen immer auch am Puls der Zeit bleiben. Wir beobachten, wie sich Verwaltungen ändern, wie sich Wandel in Verwaltungsvorgängen abzeichnet.“

Als Beispiel nennt die Generaldirektorin Unterlagen der Polizeibehörden. „Sollen wir nur die großen und spektakulären Fälle aufheben? Oder auch die kleinen, momentan eher unbedeutenden, weil sich vielleicht gerade an ihnen schleichende soziale Veränderungen ablesen lassen können? Es treten ja immer wieder auch neue Delikte auf. Denken Sie nur an die Cyber-Kriminalität.“
Kontakte und Netzwerke: Margit Ksoll-Marcon betont, wie wichtig beide seien, um auf dem Laufenden zu bleiben. Neben dem persönlichen Austausch setzt man auf Workshops in den Archiven und auf das Prinzip von Multiplikatoren inklusive schriftlicher Informationen an alle Mitarbeiter*innen.

Über den Aktendeckel hinausschauen: Längst hat sich in der Archivarbeit etabliert, nicht nur die behördliche Überlieferung zu übernehmen, sondern auch selbst zu sammeln. Plakate, Fotografien, Flugblätter und auch Gespräche „zum Beispiel darüber, warum ein Nachlassgeber bestimmte Dinge überhaupt aufgehoben hat“, ergänzen die Überlieferung, bringen regelrecht Leben in manche Unterlagen. „Das muss unbedingt weiter gepflegt werden“, sagt Margit Ksoll-Marcon.

Aber der Dämpfer folgt umgehend: „Wie sollen wir das mit unserer dünnen Personalausstattung schaffen?“ Zuvorderst stünden natürlich die originären Aufgaben, eben eine verlässliche Bewertung, eine fundierte Begleitung der Verwaltungen und die Zugänglichmachung der Archivalien. Auch all die schriftlichen Anfragen und die Beratung vor Ort sind zu bewältigen. „Und dann wollen wir ja auch noch viel mehr online stellen, virtuelle Rundgänge erarbeiten, Social Media müsste auch noch intensiver gepflegt werden, und dann sollten wir unbedingt mehr Feedbacks und Erwartungen an uns auswerten und in unserer Arbeit berücksichtigen“ – da bricht die Generaldirektorin lieber ab, zu viel könnte sie noch von einer imaginären To-do-Liste aufzählen.

Modern mit mehr Personal

Braucht es, um die Archive Bayerns und damit das zentrale Gedächtnis des Freistaats für die Zukunft zu wappnen, doppelt so viel Personal wie heute? Margit Ksoll-Marcon schweigt. Aber es blitzt in ihren Augen – sie gönnt sich jedoch nur einen kurzen Moment des Träumens: „Das wäre geradezu phantastisch. Aber zwei bis drei Stellen mehr in jedem Archiv, im großen Hauptstaatsarchiv und in der Generaldirektion jeweils fünf – das wäre schon sehr, sehr gut und wichtig.“

Solcherart aufgestockt, hätte ihre Nachfolgerin oder ihr Nachfolger mehr Gestaltungsmöglichkeiten. Sie spricht an dieser Stelle davon, dass „ich die E-Akte einführen und dass ich bauen durfte, zum Beispiel Magazine in Augsburg und Bamberg, ein neues Staatsarchiv in Landshut und dass ich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter um mich hatte, die immer engagiert mitzogen“.

Oral History im Privaten

„Ich gebe mein Wissen ergänzend zu schriftlichen Dokumenten weiter. Vielleicht zieht mancher aus meinen Erzählungen wichtige Zusatzinformationen heraus.“ Ihr Blick fällt auf alte Möbelstücke in ihrem Büro und davor im Flur: „Wissen Sie, mein Vorvorgänger Walter Jaroschka hat mir gesagt, dass er mir irgendwann die Geschichte dieser Möbel erzählen würde. Aus dem Irgendwann wurde dann ein Nie mehr.“

Margit Ksoll-Marcon wird den Archiven auch nach ihrer Verabschiedung Ende August verbunden bleiben: Sie ist schon seit Jahren im Freundeskreis des Bayerischen Hauptstaatsarchivs engagiert. Und dann will sie eine „ganz normale Nutzerin“ werden, verrät sie: Sie möchte wie so viele andere ihre Familiengeschichte erarbeiten. „In einer Ortschronik von Töging am Inn entdeckte ich, dass ein Onkel dort einmal Bürgermeister war. Das war mir neu. Jetzt möchte ich nachforschen, was die Archive noch alles zu meiner Familie verwahren.“ Auch im privaten Bereich gilt für sie: „Die Dokumente sind die eine Seite der Geschichte, die andere ergibt sich aus Erzählungen durch persönliche Kontakte. Ich will einmal Verwandte, mit denen ich in den letzten Jahren nur mehr telefoniert habe, besuchen. Oral History sollte jeder in seiner Familie pflegen.“ (Karin Dütsch)

 

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