Kultur

Die Zeiten, als der Leesesaal so leer war, wie auf der historischen Aufnahme aus der Zeit um 1910, sind längst vorbei. (Foto: BSB)

13.02.2015

Freeclimbing zu geistiger Höhe

Ein Buch versammelt viele Anekdoten aus der Geschichte der Bayerischen Staatsbibliothek

Mancher hat erst riesige Wissensberge erklimmen müssen, bis er sich „ein großer Geist“ rühmen konnte. Irgendwie ist dieser Karriereweg wohl auch in Ludwig Ganghofers Kopf herumgespukt – bei Vollmond, im Sommer, und auf dem Heimweg von Schwabing, wo sich er und seine Freunde vermutlich mit dem Geistigen irgendwelcher Studentenkneipen beschäftigt haben. An der Staatsbibliothek angekommen, diskutierten die jungen Leute deren Architektur und kamen auf die Idee, sofort einen „Feldversuch“ durchzuführen: Die Fassadenstruktur eigne sich doch ideal zum Erklimmen des Gebäudes. Ganghofer war der erste Proband: Er kam gehörig ins Schwitzen, aber die Benediktenwand war schwieriger zu bewältigen, erinnerte er sich später in seinem Lebenslauf eines Optimisten. Er kam heil wieder runter, musste aber gleich noch einmal nach oben und seinen Kameraden „retten“: Der war nur deshalb die Fassade raufgeklettert, weil er mondsüchtig sei – lautete zumindest Ganghofers Rechtfertigung, die er eindringlich den inzwischen aufgetauchten Polizisten auftischte. Nichts wie ab durch die Mitte, respektive über eine paar Gartenzäune in die Kaulbachstraße und den englischen Garten, hieß es dann nach dieser Fopperei.

Lola und die Erotica


Die Episode ist nur eine von zahlreichen literarischen Fundstücken in dem Buch Darf ich Ihnen meinen Wunschzettel mitteilen?, einem weiteren Band aus der schriftenreihe der Bayerischen Staatsbibliothek. Schön, dass die Herausgeber Waldemar Fromm und Stephan Kellner diese Sammlung für den Druck aufbereitet haben – das Projekt basiert auf einem unterhaltsamen Leseabend mit dem Schriftsteller und Literaturkritiker Albert von Schirnding und dem Tatort-Kommissar Udo Wachtveitl, damals im Rahmen der Feierlichkeiten zum 450-jährigen Jubiläum der Staatsbibliothek.
Das erste Freeklimbing hinauf zu geistiger Höhe ist nicht die einzige amüsante Anekdote in diesem kurzweiligen Streifzug durch das „Leben“ dieses Bibliothekskosmos: Man erfährt auch von in Gängen radelnden Offizianten, die so ein paar Leibespfunde loswerden wollen, von Lola Montez, die vermutlich vor allem in der verschlossenen Abteilung mit den Erotica herumstöberte – „wo sollte sie sich sonst so lange aufgehalten haben...?“, ätzte Johann Andreas Schmeller, der damals Kustos in dem Haus war.
Apropos Erotik. Nichts da, von wegen: Staubige Langeweile zwischen alten Schinken! So viel nackte Haut, wie zumindest sommers im Mittelgang des Hauptlesesaals entlang promeniert... Da ließe sich glatt ein „Stabis next Topmodel“ veranstalten, liest man aus heutigen Beobachtungen heraus. Freilich begegnet man nicht nur Laufstegschönheiten in den „heiligen“ Hallen: Die Ausrisse aus Romanen, Erzählungen, Briefen und Tagebüchern sind voll von begegnungen mit Prominenz und Sonderlingen, denen die Staatsbibliothek geradezu eine zweite Heimat, wahlweise eine willkommene Wärmestube geworden ist: ein Ort, der Rückzugsraum ebenso wie Kontaktzone ist – ein räumliches wie geistiges Biotop.

Chaotische Organisation


Aber nicht nur Lustiges und Lobendes liest man in diesem Band. Im Gegenteil, die kritische Auseinandersetzung mit diesem außerordentlichen Gedächtnisort gehört geradezu zwangsläufig zu dieser Institution.
Da verzweifelte zum Beispiel Martin Schrettinger an dem organisatorischen Chaos, das sein Vorgänger an der Spitze der Bibliothek, Johann Christoph von Aretin angerichtet hatte: Diesem war die Bücherflut, die in Folge der Säkularisation in die Bibliothek hineinschwappte, über den Kopf gewachsen – „sodass es ein glücklicher Zufall war, wenn man nach tagelangem Suchen ein verlangtes Buch finden konnte“, klagte Schrettinger. Erst er entwickelte ein sinnvolles Aufstellungssystem, nämlich jenes nach Fächern.
Die damalige Hofbliothek im Wilheminum in der Neuhauser Straße war zur größten Bibliothek im deutschsprachigen Raum angewachsen und brauchte dringend einen angemessenen und repräsentativen Neubau – es wurde ein Friedrich von Gärtner-Prachtbau an der Ludwigstraße, eifrig schaltete sich der König in alles rund um den Bau ein.
Noch vor seiner Eröffnung im Jahr 1843 hagelte es Kritik: „Von fast allem, was in unsern Tagen bei einem bestimmten Bibliotheksbau hätte geschehn müssen, um den Dienst und die Benutzung des Inhalts zu fördern, ist gerade das Gegentheil gethan worden“, klagte Schmeller schon während des Baus. Kopfschütteln konnte er nur über die widersinnige räumliche Erschließung: Er mokierte sich über den „langen Darm“, in dessen Zentrum ein „eitler Prunksaal“ lokalisiert war statt des Lesesaals und der Arbeitsräume. Er schilderte die aufwendigen Wege, die das Personal deshalb zurücklegen musste: „Nur an drey Orten wird es möglich seyn, aus dem ersten Stockwerke ins zweite zu gelangen; und sogar diese drey Treppenverbindungen wären rein vergessen worden, wenn Lichtenthaler erst jüngst nicht darauf aufmerksam gemacht hätte.“

Geharnischte Kritik


Nach einigen Jahren Bibliotheksbetrieb gab es geharnischte Kritik in einer anonym erschienenen Broschüre: Noch immer kein elektrisches Licht anno 1894, umständliches Ausleihverfahren, undurchschaubare Aufstellung, benutzerunfreundliche Öffnungszeiten: „Wir wollen also nicht schablonisieren und von der Münchner Bibliothek verlangen, sie müsse auch 72 Stunden wöchentlich, d.h. täglich 12 Stunden geöffnet sein; aber wir werden ihr doch vorhalten dürfen, dass der Unterschied zwischen 72 und 35 oder gar 29 Stunden ein gar zu grosser ist ...“
Heute hat der Lesesaal der Staatsbibliothek täglich – auch Samstag und Sonntag – von 8 bis 24 Uhr geöffnet. Die Ortsausleihe ist Montag bis Freitag zwischen 10 und 19 Uhr möglich. In Digitalisaten schmökern, recherchieren und online bestellen kann man natürlich rund um die Uhr und bequem von Zuhause oder unterwegs aus. Das ist geradezu die Demokratisierung im Leihverkehr, wenn man so will: Denn einstmals durften es sich nur solch große Geister wie Thomas Mann erlauben, dem Stabi-Chef höchstpersönlich einen „Wunschzettel“ mit der Bitte um Bearbeitung und Zusendung der Bücher zu übermitteln. (Karin Dütsch) (Die Staatsbibliothek in einem historischen Stich; auch Adolf Hitler besuchte die Staatsbibliothek in München - Fotos: BSB)

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