Kultur

Die Fantastischen Vier mit Smudo, Thomas D. und DJ Hausmarke 1999 beim ersten MTV-Southside-Festival in Neubiberg bei München. Die Stuttgarter Altrapper und sind noch immer erfolgreich unterwegs. (Foto: dpa/Hubert Boesl)

22.02.2019

Fulminanter Urschrei

Das Buch „Könnt ihr uns hören?“ lässt als „Oral History“ dreieinhalb Jahrzehnte Deutschrap Revue passieren

Für dieses Buch braucht man Zeit. Nicht nur, weil es 464 Seiten hat und man sich viele Sätze daraus genüsslich mehrmals durchliest und für das eine oder andere Wort durchaus Übersetzungshilfe heranziehen muss, sondern weil man sich dazu eine Art akustischen Begleitband selbst erstellen sollte: Über Deutschrap lesen ist nur die halbe Sache – man muss ihn hören. Also zappt man sich parallel zu dem, was man über Rapper und ihre Musik liest, online durch Streamingdienste und hört sich das längst Vergessene oder noch nie Gehörte an. Das ist vielleicht die beste Antwort auf den Buchtitel Könnt ihr uns hören? (der einem Liedtitel von Cora E. und Marius No.1 entliehen ist).

Könnt ihr uns hören? klingt wie der Urschrei der Rapper, die sich aus dem Hip-Hop herausschälen lassen – besonders der deutschen, nachdem sie sich von den amerikanischen Vorbildern emanzipiert haben und sich trauten, auf Deutsch zu rappen. Das konnte das Publikum verstehen. Dann hatte es auch Sinn, von sich und der Welt zu erzählen – mal mit tiefem politischem Ernst, mal mit sozialkritischer Note, mal mit einer Portion Spaß.

Bedeutend werden

„Keiner von uns wollte Musiker sein, uns ging es immer um die Kultur“, wird Cora E. im Buch zitiert und Flipstar sagt: „Die Einstellung damals war: Man muss Underground sein. Alles, was erfolgreich ist oder kommerziell klingt und nicht conscious und real ist, ist scheiße.“ Freilich gab es früh „Verräter“, die halt auch von der Plattenindustrie erhört werden und eine Chartplatzierung wollten. Die Fantastischen Vier, kurz Fanta 4, zum Beispiel spalteten die Lager: War das nicht einfach Popmusik?

Auch wenn sich die Szene damals quasi in regelstrenge „Fundis“ und Realos, die sich von niemandem Vorschriften machen lassen wollten, teilte: Alle waren (und sind) angetrieben vom Kampf um Anerkennung. „Wir saßen in der Schule oder standen in irgendwelchen Läden und hatten diesen Traum, endlich der Bedeutungslosigkeit zu entkommen“, meint Curse.

In-die-Fresse-Rap

Aus dem anfänglichen Underground entwickelte sich bald ein Genre, das als Deutschrap etikettiert wurde. Aber eine einheitliche Szene gibt es bis heute nicht. Was ja dem Prinzip entspricht, dass unterschiedliche regionale, soziale und zeitliche Wurzeln den „Style“ vorgeben. Da gab es dann plötzlich Straßenrap, Gangstarap, Studentenrap, Pornorap, Battlerap, um nur einige Schlagwörter zu nennen.

Besonders augenfällig sollten sich Unterschiede zwischen der (jüngeren) Berliner Szene und den Rappern in Hamburg oder Stuttgart (zwei maßgebliche „Rap-Biotope“ Deutschlands in den 1980er-/90er-Jahren) entwickeln. Rap wurde aggressiv. Nicht nur, dass Berliner Szenegangs gerne Veranstaltungen in anderen Städten aufmischten, auch inhaltlich und verbal wurde Provokation exzessiv hart zelebriert. Die Grenze zu Gewaltverherrlichung, Sexismus und Homophobie ist fließend.

Über Berliner Rapper sagt Blockmonsta: „Wir mussten uns mit mehreren Leuten einen Döner teilen, wir konnten uns keine teuren Klamotten oder MP3-Player leisten. Wir haben die Sachen im Laden geklaut oder Leute aus Zehlendorf abgezogen, weil wir dachten, dass die eh genug Geld haben, um sich die Sachen noch mal zu holen. Ist doch klar, dass man dann nicht darüber rappt, was man für geile Sachen hat, sondern dass man erzählt, wie man sich die geilen Sachen auf anderem Weg besorgt.“

Vom „kompromisslosen In-die-Fresse-Rap ohne Message“ spricht Azad. Hatte Aphroe von der Ruhrpott AG 1998 noch gerappt, „unser Wortschatz ist kostbar wie ’n Ring aus der Ming-Dynastie“, war’s bei der nächsten Rappergeneration vorbei mit intellektuell angehauchtem Sprachspiel oder ironischem Wortwitz. „Wir haben etwas gemacht, das es vorher im Rap nicht gab, und allen einen Mittelfinger gezeigt. Wir waren der Meinung, dass wir machen können, was wir wollen, und haben Wörter wie ,Muschi’, ,Fotze’ oder ,Pimmel’ gesagt, wenn wir da Bock drauf hatten“ (Frauenarzt).

„1990 war der Anfang, die Geburt des Deutschrap. Diese Szene hat bis zum Jahr 2000 existiert. Da war der Käs’ gerollt, sage ich jetzt mal ganz platt. Da war der Bann gebrochen, und der Werteverfall ging los“, ätzt Denyo, einer aus der frühen Deutschrapszene.

Aber Rap und die anderen Spielarten des Hip-Hop sind nicht tot. Viele aus der ersten Rapperszene Deutschlands sind als gestandene Mittvierziger noch immer aktiv. Ihre Writer-Kollegen von damals sind heute gefeierte Graffitikünstler. Der Nachwuchs rappt eifrig weiter, freilich mit anderen Themen, mit anderen Attitüden. Die soziale und psychologische Dimension des Ganzen machen sich heute Institutionen der Jugendkultur oder der Betreuung von Migranten zu eigen.

Hommage an die Altrapper

Davon erzählt das Buch nicht mehr. Es ist eine Hommage an die Deutschrapper der ersten Stunde – überwiegend der 1960er-/70er-/80er-Jahrgänge. Sie erzählt vom Konzept her wie in einem Entwicklungsroman von vielen, die auszogen, das Rappen zu lernen, und was es aus ihnen gemacht hat. Der Münchner David P. ist Arzt geworden und sagt, dass er noch immer nach Hip-Hop-Werten lebt: „Man kann sich auch als Arzt verkaufen, indem man irgendwelche schwachsinnigen Untersuchungen anbietet oder irgendeinen Scheiß verkauft. Aber das ist dann Sell-out. Das mache ich nicht.“

Bezeichnenderweise und mit einer Portion Selbstironie singen die Altrapper „Fanta 4“ Seite an Seite mit Clueso in ihrem aktuellen Charterfolg Wie werden zusammen alt: „Wir sind unzertrennbar Wir, wir sind unverkennbar, Wir, setzen uns ‘n Denkmal.“

Nur O-Töne

Das Phantastische an dieser „Oral History des deutschen Rap“ (Untertitel) ist, dass ausschließlich O-Töne von Rappern wiedergegeben werden – über sich und andere, über „das erste Mal“, über Definitionen sowie gar viel altersweises Reflektieren und Philosophieren. Das Ganze geschieht nur in Antworten. Deren geschicktes Arrangement und Gliedern in Kapiteln durch die beiden Musikjournalisten Jan Wehn und Davide Bartot macht Fragen überflüssig, die den Drive einer fiktiven kollektiven Gesprächsrunde bremsen würden.

Könnt ihr uns hören?: ein neues Standardwerk nicht nur zur Musik, sondern zur Jugendkultur in Deutschland der vergangenen dreieinhalb Jahrzehnte. (Karin Dütsch)

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