Kultur

Markus Herin als rücksichtsloser Rentier, Nora Buzalka als berechnendes Luder Thérèse. (Foto: Pohlmann)

29.05.2015

Knallharte Ego-Shooter

Labiches "Ich Ich Ich" am Münchner Residenztheater bleibt im handwerklichen Boulevard stecken

Hobby-Psychologen wissen: Verschmutzte Seelen tarnen sich mit äußerlicher Reinheit. Darauf spielt das keimfrei-weiße, leere Bühnen-Halbrund von Annette Murschetz an, das mit dünnen Schleiern umgrenzt ist. Eine Lichtdusche an der Decke verbreitet gleißende Helligkeit. Diese Operationssaal-Beleuchtung deutet an, was hier passieren soll: Martin Ku(s)ej will Eugène Labiches Salonkomödie Ich Ich Ich (1864) als Vivisektion der bürgerlichen Gesellschaft präsentieren.
Denn tatsächlich steckt in dieser Satire auf die Pariser Bourgeoisie des späteren 19. Jahrhunderts eine Art Psychologie der herrschenden Klasse, die heute so aktuell ist wie einst: Schon damals hatte die totale Ökonomisierung auch das Gefühlsleben der Menschen infiziert und in Kosten-Nutzen-Kalkül verwandelt: Zwei reiche Spekulanten wollen ihrem Arzt billig ein Grundstück abluchsen, von dem der noch nicht weiß, dass es enorme Wertsteigerung erfahren wird. Gleichzeitig müssen Nichten verheiratet, Gäste mit billigem Wein abgespeist und Banken gerettet werden – fast wie im heutigen Leben.
Schade nur, dass der Residenztheater-Intendant doch im kunsthandwerklichen Boulevard stecken bleibt. Viel schriller, schräger, überdrehter hätte seine Inszenierung ausfallen müssen, damit die politische Analyse nicht bloß Beilage zur metiersicher geplanten Gaudi ist, sondern damit der Irrwitz, die latente Schizophrenie des ganzen Systems auch szenisch erfahrbar wird.

Eisige Superzicke

So aber tendiert der Abend zur braven Familien-Unterhaltung, die dank erstklassiger Schauspieler noch als Staatstheater-tauglich durchgeht. Markus Hering gibt den reichen Rentier, der sich für einen Philanthropen hält, aber rücksichtslos dem Eigennutz frönt. Sein Geschäftsfreund oder vielmehr Betrugskomplize, vom großartigen Oliver Nägele als grellzarte Karikatur hingestellt, bekennt sich dagegen in entwaffnender Offenheit zum Egoismus. Und die Frauen sind auch nicht besser: Mit ihrem piepsigen Zuckerpuppen-Geturtel lässt Nora Buzalka als Nichte alle Männer dahinschmelzen, aber bald wird klar, dass sich hinter der herzigen Fassade ein berechnendes Luder verbirgt: eine eisige Superzicke, die ihr Selbstvermarktungs-Geschäft genauso knallhart betreibt, wie es in dieser Gesellschaft bei Geschäften (und allem anderen) üblich ist.
Angesichts solcher Figuren beginnt man zu ahnen, warum Darwins Evolutionstheorie in etwa zur gleichen Zeit entstand wie Labiches Komödie: die Lehre vom Ego-Shooter-Trieb als Grundprinzip aller belebten Natur erscheint fast als wissenschaftliches Äquivalent der Konkurrenz-Ideologie. (Alexander Altmann)

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