Kultur

Martin Platz singt und spielt überzeugend die Titelfigur Alan Turing. (Foto: Ludwig Olah)

02.12.2022

Liebesaffäre mit Algorithmen

Das Publikum feiert die Nürnberger Opernuraufführung „Turing“ über die Geschichte eines zwangskastrierten homosexuellen Informatikgenies

Queen Elizabeth II. sprach Weihnachten 2013 ihr „Royal Pardon“ aus. Sie wusste genau, was die britische Nation diesem Alan Turing zu verdanken und was sie ihm gesetzesgetreu angetan hatte: Der „entsetzlichen Behandlung“, der chemischen Kastration, standen „außerordentliche Verdienste“ gegenüber: die von ihm entwickelten Fundamente der Theoretischen Informatik, vielleicht sogar der Sieg im deutsch-britischen Seekrieg. Was man zu dieser Geschichte erwarten konnte, waren Filme und Bücher – aber eine Oper?
Das Staatstheater Nürnberg hat sich an die Uraufführung einer solchen gewagt. Zum Libretto des Chefdramaturgen Georg Holzer komponierte Anno Schreier die Musik. Die Gaycommunity hat mit der Figur des titelgebenden Turing einen einsamen Helden.

Packende Musik

Der historische Alan Turing wurde 1912 geboren. Er war homosexuell und litt unter Depressionen infolge einer gerichtlich angeordneten Hormonbehandlung – zwei Jahre danach nahm er sich 1954 das Leben. Ein mit Zyanid vergifteter Apfel soll es gewesen sein, mit dem er sich umgebracht hat – ein angebissener, giftig-grüner Apfel liegt denn auch wie ein Logo auf der Bühne des Nürnberger Opernhauses.

Der Beifall für die Uraufführung war frenetisch, sicherlich verschieden motiviert: einerseits für Libretto, Musik und Inszenierung, andererseits für die Message. Schreier war offensichtlich selbst von der unerwarteten Orkanstärke überrascht. Für Turing hat er eine streckenweise packende Musik komponiert, mit viel intensiv eingesetztem Blech, einem großen Holzarrangement und Klavier – das alles klingt forsch wie ein Musical aus dem Londoner Westend.

Minimal music beherrscht die Szenen, in denen es um Computer, Algorithmen und Mathematik geht. Romantisch schwelgend klingt dazu das unglückliche Privatleben von Alan. Der weiß, wie es um ihn angesichts der damaligen Gesetzgebung steht. Seine Mutter und eine Freundin, mit der er sich pro forma verloben will, und das Computerwesen „Madame K I“ sind seine Bezugspersonen. Der Chor ist unverkennbar mit Bowler und Perücken die sittenstrenge britische Gesellschaft.

42 Lebensjahre dieses Mannes, der seine erste homosexuelle Liebesaffäre in der Mathestunde erlebte und die letzte in einer Schwulenkneipe mit einem diebischen Partner, hat Jens-Daniel Herzog im raffiniert wandlungsfähigen Bühnenbild von Mathis Neidhardt als unterhaltsame Erinnerung an diesen Turing inszeniert. Dieser fragt sich im Leichenhemd: „Bin ich tot?“, und kuschelt mit seiner Computerfreundin, die wiederum weiß: „Ich bin bald klüger als der Mensch.“ Dazu sieht der einsame Turing ein: „Ich bin eine Insel.“

Dazu hört man Musik zwischen Melodik und Sprechgesang, poetisch, sarkastisch und gegen Ende mit einem Frauenstimmenterzett, als wär’s der Rosenkavalier. Bei Guido Johannes Rumstadt und der Staatsphilharmonie ist dieses musikalische Kaleidoskop in metierkundigen Händen, dieser Wechsel von Irdischem und Ätherischem, die Leitmotive in Streichern und Flöten, die Untermalung so skurriler Szenen wie jener mit Winston Churchill und dem Kriegscomputer. „Sie haben das Königreich gerettet, aber niemand wird es erfahren“, sagt der Kriegsminister und überreicht klammheimlich den Orden des British Empire.

Auszeichnungsverdächtig ist für die Nürnberger Aufführung Tenor Martin Platz in der Titelrolle: ein schmaler junger Mann ohne peinliches Outing und fast autistisch. Seine Stimme ist oft von kristalliner Kälte, hat alle Möglichkeiten eines Charaktertenors, kann sogar unter der Gasmaske singen – passend zu Schreiers Beat und sentimentaler Poesie.

Die Queen über allem

Das Bild von Elizabeth II. beherrscht auch die Szene vor Gericht: „Schuldig der Sittenlosigkeit nach § 11“ schreit es aus Richterkehlen, dann stürzt das Styroporbild über Turing zusammen, es schneit wie im Weihnachtsmärchen und nach dem Suizid bleibt nur die Aussicht auf die Partnerschaft mit asexueller künstlicher Intelligenz. Denn die hat er selber erfunden. (Uwe Mitsching)

 

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