Kultur

Roman Poboinyi (links) spielt den aalglatten Forschungsreisenden, der keine Stellung beziehen will. Wiard Witholt gestaltet die Rolle des Offiziers mit sicherem Gespür für Doppelbödigkeit. (Foto: Jan-Pieter Fuhr)

22.10.2021

Moralische Umkehrung

Zwischen Faszination und Abscheu: Die Kammeroper „In der Strafkolonie“ von Philip Glass auf der Augsburger Brechtbühne im Gaswerk

Eindrucksvoll lange hängt der Verurteilte (Thomas Berchtold) bleich und reglos am überdimensionalen schwarzen Karabinerhaken. Dieser ist in der Augsburger Inszenierung auf der oberen Etage des zentral positionierten Bühnenturms der einzig sichtbare Teil des Tötungsapparats, um dessen bestialisches Folter- und Bestrafungspotenzial die 1919 veröffentlichte Kafka-Erzählung In der Strafkolonie kreist. Für Philip Glass wurde sie zur literarischen Vorlage seiner im Jahr 2000 in Seattle uraufgeführten gleichnamigen Kammeroper, die mit zwei gleichrangigen Rollen – dem „Offizier“ und dem „Forschungsreisenden“ – sowie dem dauerhaft präsenten, aber eben nur stumm agierenden Straftäter auskommt.

Recht und Gerechtigkeit

Nach eigenem Bekunden reizte den Komponisten insbesondere die Entwicklung beziehungsweise die „moralische Umkehrung“ der Protagonisten. Im nebulösen Netz von Schuld und Sühne werden nicht allein Täter-Opfer-Psychogramme beleuchtet, es geht auch um die verwirrende Suche nach Recht und Gerechtigkeit, Erlösung und Erleuchtung unter der Prämisse „Die Schuld ist immer zweifelsfrei“.

Die untere Kammer des Bühnenturms „beherbergte“ das hochkonzentrierte Streicherquintett, das unter der Leitung von Ivan Demidov als verlässlicher Antriebsmotor der abstrusen Maschine fungierte und in hinlänglicher Glass-Manier die end- und gnadenlos scheinenden und dabei immer geschliffen scharfen, atmosphärischen Klangflächen generierte.

Aileen Schneider, die von 2017 bis 2020 als Regieassistentin am Staatstheater engagiert war und aktuell an der Oper Frankfurt arbeitet, fokussiert sich als Regisseurin im Zusammenwirken mit ihrem Ausstattungsteam (Lisa Marie Damm und Florian Parkitny) auf eine plakative, irgendwie auch genderbefreite, von Lachsrosa dominierte „plastikblumige“ Bild-und Symbolsprache. Sie vertraut auf den Einsatz von Videokamera und damit auf die filmische Verdoppelung, Vergrößerung und Verzerrung, um ihre Sicht auf das sich in Auflösung befindliche (Unrechts-)System in dieser Strafkolonie zu verdeutlichen.

Die auch sexuell aufgeladene Obsession für die von seinem so verehrten alten Kommandanten ausgeklügelte Foltermethode, die den Delinquenten Schuld und Vergehen in die Haut ritzt, verkörperte Wiard Witholt im korsettartig geschnittenen, langen, lachsfarbenen Faltenrock mit sicherem Gespür für die Zwischentöne und das Doppelbödige. Seine Figur steht auch für Strenge und Diszi-plin und scheint deutlich mit sadomasochistischer oder samuraiartiger Attitüde ausgestattet. Die hingebungsvoll inszenierte Selbstopferung mit Tauchbädern in Goldfarbe scheitert am Ende an den Sollbruchstellen des in die Jahre gekommenen Apparats.

Starke Bühnenpräsenz

Als Repräsentant einer rituellen Welt genießt er die gottgleiche Allmacht, die nur dann aufrechterhalten bliebe, wenn er den smarten Forschungsreisenden davon überzeugt, sich zum Fürsprecher des bewährten Strafverfahrens zu machen. Doch der modisch gestylte Besucher versteckt sich aalglatt hinter Auftrag und Funktion, will analytisch korrekt und definitiv neutral bleiben. „Ich bin doch nur ein Beobachter“ wird zur Ausrede, mit der er sich raffiniert Verantwortung und Stellungnahme entzieht. Roman Poboinyi baut Spannung auf und bewältigt den emotionalen Spagat zwischen Faszination, Interesse und Abscheu mit tenoral-eindringlicher Schärfe und auffallender darstellerischer Intensität.
Nicht zuletzt die Bühnenpräsenz beider Solisten wurde mit starkem und langem Premierenbeifall gewürdigt.

Dringend nahezulegen ist dem künftigen Publikum die Vorbereitung durch die Lektüre der Kafka-Erzählung, denn das ins Deutsche übersetzte Libretto von Rudolph Wurlitzer ist nur mit großer Mühe und sehr gutem Gehör vollständig nachvollziehbar, da auf die sinnvolle Übertitelung – gerade bei einer literarischen Oper wesentlich – leider verzichtet wurde. (Renate Baumiller-Guggenberger)

 

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