Kultur

Philipp Lind, Nina Steils und Jonathan Hutter bewältigen zircensisches Rumturnen auch auf Stöckelschuhen – das will allerdings nicht so recht zum Text dieses Stücks passen. (Foto: Gabriela Neeb)

01.02.2019

Perverse Harmonie

Alltags-Antisemitismus oder bloße Paranoia? Maya Arad Yasurs „Amsterdam“ am Münchner Volkstheater

Lasst Körper sprechen, heißt es am Münchner Volkstheater. Nina Steils, Jonathan Hutter und Philipp Lind kraxeln, tänzeln und turnen in Sapir Hellers Inszenierung auf der Kleinen Bühne des Hauses pausenlos herum, als wären sie nicht nur Schauspieler, sondern auch Artisten. Einmal formen zwei von ihnen gar ein lebendes Möbelstück, einen Thron mit Frauenbeinen als Armlehnen, auf dem der dritte dann Platz nimmt, um – winke winke – die niederländische Königin a.D. zu mimen.

Wie ja überhaupt ein Hauch von Zirkus oder Varieté durch diesen Abend weht: auf der Bühne eine metallene Bogenkonstruktion mit Lämpchen, die auch als Turngerät dient, als Sprossenwand in Halbkreisform quasi. Mit Glitzerklamotten und künstlichem Strahlemann-Lächeln geben die Akteure die Show-Profis. Gleichzeitig sind sie allesamt Besserwisser und Schlaumeier, die sich gegenseitig dauernd korrigieren.

Wobei Maya Arad Yasurs Erinnerungsgeschichte Amsterdam, die hier ihre deutschsprachige Erstaufführung erlebt, weniger Drama, sondern eher ein Prosatext ist: der innere Monolog (oder „innere Blog“, wie man fast sagen könnte) einer israelischen Geigerin und Komponistin, die in Amsterdam lebt. Von ihrem holländischen Freund erwartet sie ein Kind.

Offene Rechnung

Sie ist im neunten Monat, als sie eine Gasrechnung aus dem Jahr 1944 für ihre Wohnung bekommt, die sich inzwischen mit Zinsen auf 1700 Euro beläuft. Beunruhigt durch diesen rätselhaften Schrieb, der auf finstere Zeiten zurückverweist, ist die Frau schlagartig sensibilisiert und beginnt, in ihrem Alltag reale oder vermeintliche Zeichen von Rassismus wahrzunehmen: In dem jungen Holländer hinter ihr an der Supermarktkasse vermutet sie einen Ausländerfeind, der sie für eine muslimische Migrantin halten könnte.

Dass sie sich dadurch auch in ihrem sozialen Status verkannt fühlt, weil sie ja nicht geflüchtet ist, sondern vielmehr eine Künstlerin, die ihren Wohnsitz selbstbestimmt wählt, das offenbart, wie tief auch in ihr selbst das Denken in gesellschaftlichen Hierarchien wurzelt.

„Selektion“ am Mülleimer

Wenn ihr dann wenig später ihre Agentin vorschlägt, ein Requiem für 551 tote Kinder aus Gaza zu komponieren, denn dieses Thema sei derzeit sozusagen gut verkäuflich, ist die Musikerin wie vom Donner gerührt, weil sie das Ansinnen als antisemitischen, zumindest antiisraelischen Akt empfindet.
Und mit einer stark an Friedrich Nietzsches Desillusionierungs-Psychologie erinnernden Hellhörigkeit erahnt (oder unterstellt) die Musikerin schließlich bei einem Anwalt, der sich für Minderheiten einsetzt, eigennützige Interessen. Nicht Interessen materieller Art, sondern das Bedürfnis, aus der Schwäche des Hilfsbedürftigen ein Gefühl der eigenen Überlegenheit, der eigenen moralischen Größe zu gewinnen.
Die Grenze zwischen begründetem Verdacht auf Alltags-Antisemitismus und bloßer Paranoia wird jedenfalls fließend im Kopf dieser jungen Frau, der plötzlich schon die Mülltrennung als Akt der „Selektion“ erscheint.

Das Seltsame ist nur, dass kein Widerspruch spürbar wird zwischen diesem schweren Thema und dem aufgekratzten Showgehabe der Schauspieler, zwischen Text und Körpersprache. So entsteht eine Aufführung von verstörender, perverser Harmonie, und man verlässt das Theater mit dem Gefühl, sich gut unterhalten zu haben. (Alexander Altmann)

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