Kultur

Außer Starkbier wurde früher kein anderes Getränk auf dem Salvatorkeller ausgeschenkt – da dämmerte mancher bald bierselig hinweg. Die Illustration (1877) stammt von Alfred Seiffert. (Foto: BWA)

12.02.2021

Pilgern zum Heilig-Vater-Öl

Die Marken-DNA der Paulaner-Brauerei: Richard Winklers kurzweilige Geschichte über das Salvatorbier tröstet ein wenig über den Lockdown auf dem Nockherberg hinweg

Der Salvatoranstich findet heuer ohne Publikum statt. Darüber zu lesen ist zwar kein Ersatz fürs derbleckende Live-Spektakel, aber auch die Lektüre von Richard Winklers Buch über die Geschichte des Paulaner-Starkbiers treibt einem manchmal Lachtränen in die Augen. Der Archivar hat viele Quellen angezapft und daraus eine unterhaltsame Kulturgeschichte des Kultes ums Starkbier gebraut.

Auf allen Vieren lehnt er sich weit über die Wolkendecke hinaus, an einem langen Seil baumelt ein Maßkrug gen Erden, auf dass er gefüllt werden möge: Ein Heilig-Vater-Öl soll es sein, wie früher das Starkbier von Paulaner genannt wurde. Ein Zeichner hat die Geschichte vom Alois Hingerl uminterpretiert: Autor Ludwig Thoma wies dem fluchenden Münchner Engel als irdische Heimstatt das Hofbräuhaus zu – der Gästebucheintrag des Salvatorkellers macht hingegen Glauben, dass der Dienstmann Nummer 172 lieber ein Paulaner-Starkbier getrunken hätte.

Trefflich hat Richard Winkler diese Illustration von 1932 gleich in sein Vorwort zum Buch Der Salvator auf dem Nockherberg platziert: Seit Jahrhunderten besteht die Konkurrenz zwischen beiden Münchner Braustätten im Kult ums Starkbier. Schon genug, dass sich die Paulaner-Mönche in ihrem Kloster am Neudeck trauten, auch ein Starkbier zu brauen, und zwar nicht nur für den Eigenbedarf. Aber dafür im Ausschank einen höheren Preis als den von der Obrigkeit fürs normale Winter- und Sommerbier festgesetzten zu verlangen, dieses Privileg des Hofbräuhauses durfte nicht klammheimlich übertragen werden.

Aber die Behörden scheiterten: zunächst an den störrischen Mönchen, dann am bockig-gewieften späteren Brauereibesitzer Franz Xaver Zacherl – vor allem aber an den Pilgermassen, die zum Ausschank strömten, darunter Angehörige des Hofes und hohe Staatsbeamte. Immerhin handelte es sich bei dem malzigen Gebräu doch um wahre Medizin, folgt man dem schlitzohrigen Braumeister Zacherl, der 1837 seinen um etliche Tage früher als erlaubt begonnenen Ausschank so begründete: Er habe den Trunk nur bedürftigen kranken Menschen gegeben, „wovon viele ärztliche Zeugnisse beigebracht haben, dass ihnen Salvatorbier zur Herstellung ihrer Gesundheit verordnet wurde“. Ganz so abwegig ist dieses Argument nicht: Ab Herbst 1836 wütete die Cholera in München, wer sie ausgezehrt überlebte, den brachte eine Maß Starkbier vielleicht tatsächlich wieder zu Kräften.

Gesund war Zacherls Starkbier auf jeden Fall in ökonomischer Hinsicht. Zahlen dazu liest man immer wieder in die unterhaltsame Lektüre eingestreut und in angehängten Tabellen. Autor Richard Winkler hatte darauf leichten Zugriff: Er ist stellvertretender Leiter des Bayerischen Wirtschaftsarchivs, wo sich die Archivalien der Paulaner-Brauerei befinden.

„Allweil saudumm“

Wer glaubt, dass bierrauschige Exzesse Phänomene jüngeren Datums sind, liest in Winklers Buch auch unter diesem Aspekt von einer Tradition: Drüber und drunter ging es schon immer zu, mit Gejohle und Grölen zur Musik (einer der Schlager: „Hinum, herum, allweil saudumm!“), Stehen auf den Bänken, Fäusteschwingen und Massenschlägerei, zusammengesunkenen Alkoholleichen, umgekippten Stühlen, zerbrochenen Bierkrügen, schreienden Nachhausewankenden; mancher „Salvator-Ritter“ fiel in die Isar oder wurde von Dieben überfallen.

Fest- statt Fastenbier

Der Spuk dauerte einst acht Tage rund um den 2. April: den Namenstag des hl. Franz von Paola, der den Paulanerorden gegründet hatte. Anders als heute begleitete der Starkbierausschank einst das Gedenkfest mit Gottesdienst und hatte als Anlass nicht die Fastenzeit, wie heute oft angenommen wird, weil seit 1862 Bayerns „fünfte Jahreszeit“ nach Fasching und meist um Josefi (19. März) herum beginnt und inzwischen 17 Tage dauert.

Ins Gehege mit dem Maibock des Hofbräuhauses kam man sich nicht – weder beim Termin noch bei der Bierqualität, wenn man dem geschäftstüchtigen Braumeister Zacherl glauben mag, der gegen den Bock des Königlichen Bräuhauses ätzte, „der wie alle Monopolien-Artikeln sich nicht immer der besten Qualität erfreut“. In einem Artikel des Münchner Tagblatts las man 1834: „Die Wirkung des Salvatorbieres [ist] stärker als die des Bockes, und es muss für einen Psychologen, das heißt wenn er selbst nüchtern bleibt, von Interesse seyn, diese verklärten Gesichter zu beobachten.“

In dieser Zeit hatte das früher von den Mönchen noch als „Herrenbier“ bezeichnete und später sogenannte Sankt-Vater-Bier 6,2 Volumenprozent, der Bock aus dem Hofbräuhaus fünf Prozent, das zeitgleich angebotene normale Winterbier um die drei Prozent. Bis 1848 blieben der Zacherlbräu und das Hofbräuhaus die einzigen Brauereien im ganzen Königreich, die ein Starkbier zu höherem Preis verkauften, dann wurden die obrigkeitlichen Einschränkungen aufgehoben.

Die neue und vielfältige Konkurrenz juckte den Zacherlbräu, der nach der Betriebsübernahme durch Zacherls adoptierte Neffen Schmederer-Brauerei hieß, überhaupt nicht: Der Ansturm auf den Neudecker Garten (wo der Salvator seit 1846 ausgeschenkt wurde) war ungebrochen.

Man brauchte mehr Platz: Am 1. April 1861 wurde der Starkbieranstich erstmals auf dem Nockherberg gefeiert, wo die Brauerei ihren Sommerbierkeller hatte. Ein Absatzrekord jagte den nächsten. Beim Pro-Kopf-Ausschank übertraf man das Oktoberfest. Wie dieses wurde der Salvatorausschank interessant für die Tourismuswerbung. In (wohl von der Brauerei lancierten) Zeitungsartikeln wurde vom „Inbegriff urgemütlicher Fidelität“ geschwärmt, das Raufen als Beweis bayerischer Urwüchsigkeit abgetan und eine vermeintlich klassenlose Biergesellschaft beschworen.

All die Lobhudelei konfrontiert Richard Winkler mit einer überaus anschaulich geschilderten „Ohnmachtsanwandlung“ von Carl August Dempwolff. Der aus Lüneburg stammende Schriftsteller betrieb in München eine Buchhandlung, und über seiner sinnlichen Schilderung eines Nockherberg-Besuchs liest man die treffliche Überschrift „Hexensabbat“.

Ein anderer Zwischentitel lautet „Tugendhafte Gänseblümchen und sündige Rosen“: Seit jeher ließen sich auch Frauen das Starkbier nicht entgehen. Freilich rümpften Kritiker die Nase: Akzeptabel war die Frau, die sich am Arm des Gatten das Ganze nur mal anschaute. Aber wehe, eine Münchnerin saß mit einem Maßkrug da! Dann steigerte sich die Moralisierung in Diffamierung. Dempwolff schlug gleich alle dort anzutreffenden Frauen der Halbwelt zu, die „sich von einer Bestialität zeigt, die alles das, was man von Paris und London in dieser Hinsicht sagt, weit hinter sich lässt“.

Von Bestialität zeugt indes die „Salvatorschlacht“ 1888: Der Kaiser war gestorben. Warum sollte man deshalb auf dem Nockherberg auf Musik und Amüsement verzichten? Mehrere Tumulte brauten sich zu einem veritablen kriegerischen Szenario zusammen, das erst die säbelschwingenden Schweren Reiter auflösten.

In den Maßkrug grunzen

Das brachte das Fass zum Überlaufen: Die wilde Maßlosigkeit musste ein Ende haben. Es hagelte Restriktionen: Gepflegte Militärmusik verleidete das Mitsingen, Taktschlagen mit dem Maßkrug war verboten, ebenso das Stehen auf Bänken und Tischen, der Ausschank wurde zeitlich beschränkt, Polizei (auch hauseigene) patrouillierte verstärkt, und vor allem wurde Eintrittsgeld erhoben: 1890 waren es 20 Pfennige, so viel wie eine halbe Maß Starkbier. Man wollte sich den Pöbel vom Hals schaffen. Der Starkbierausschank sollte ein gesittetes Fest werden. Die verbleibenden Unsitten hielten sich in Grenzen: zum Beispiel das Hineingrunzen in leere Maßkrüge.

Der Imagewechsel tat dem Ansturm auf den Nockherberg keinen Abbruch. Die Schmederers begleiteten ihn mit Marketing – auch, um sich gegenüber anderen Salvatorbieren zu behaupten. Vor allem erinnerten sie sich an die schon von ihrem Onkel in die Welt gesetzte Anekdote, dass die Paulaner-Mönche einst dem Landesvater, Kurfürst Karl Theodor, die erste Maß Starkbier reichten. Eine entsprechende Illustration wurde verbreitet. Und auch wenn es noch dauern sollte, bis daraus ein bis heute gepflegtes Ritual wurde: Die Schmederers bauten die Starkbierprobe vor dem öffentlichen Ausschankbeginn zu einem regelrecht festlichen Event für Münchens Hautevolee aus: mit aufwendiger Saaldekoration und Unterhaltung durch Volkssänger, Volksschauspieler, Mundartdichter und einer launigen Salvatorrede.

Kampf ums Markenrecht

Die Konkurrenz schlief nicht: Salvatorbier brauten inzwischen auch andere Brauereien. Die Schmederers hatten den Markenschutz nicht rechtzeitig für sich juristisch reklamiert. Plötzlich kopierten die anderen selbst die Starkbierprobe, woraus sich ein heftiger Markenstreit entwickelte. 1899 siegten die Schmederers mit der patentrechtlich anerkannten Eintragung des Warenzeichens „Salvator“ – zeichensetzend wurde aus der Schmederer-Brauerei (seit 1885 Aktiengesellschaft) die Paulaner-Salvator-Brauerei.

Dann die Rezession um die Jahrhundertwende: Der gesamten Bierbranche sackten die Gewinne weg. Die Leute mussten sparen. Nicht aber beim Starkbier! Dessen Absatz stieg weiterhin, auch im Ausland, und ungebrochen im erweiterten Salvatorkeller.
Doch die Freude darüber währte nicht lange: Der Erste Weltkrieg bereitete ihr das Ende; ab 1916 durfte kein Starkbier mehr gebraut werden, das Verbot endete erst 1925. Dann kam die Weltwirtschaftskrise, in der das Geschäft auf die Hälfte zurückfiel; bis dahin hatte sich das Unternehmen schon andere Brauereien einverleibt, die größte war die Münchner Thomas-Brauerei.

Als die wirtschaftlich mageren Zeiten überwunden waren, brachen auch auf dem Nockherberg die braunen an: 1933 zeichnete ein Gast erstmals das Hakenkreuz ins Gästebuch. Unverhohlen biederten sich die Redner an Hitler und die Nationalsozialisten an. Ab 1939 war Starkbierbrauen erneut verboten. 1944 zog der Gauleiter in den sicheren Untergrund des Nockherbergs – schon einen Monat später wurde der Salvatorkeller bei der Bombardierung Münchens zerstört.

Den Wiederaufbau von Kellergaststätte und Festsaal schaffte man rechtzeitig zum ersten wieder genehmigten Starkbieranstich 1950. Die Überfüllung war vorhersehbar. Wie ehedem ließ sich die Prominenz den Starkbieranstich nicht entgehen – bis heute ist das eine willkommene Bühne für Politikerpräsenz. Rundfunk und später das Fernsehen begleiten seit den 1950er-Jahren das Spektakel, zunächst in Ausschnitten und schließlich in voller Länge. Da schluckt man beim Derblecken auch manche Kröte und macht gute Miene zum derben Spiel, das sich seit den 1960er-Jahren immer politischer gab.

Was war das für ein genialer Schachzug, den der Paulaner-Chef Bernhard Scheublein 1965 machte: Er reichte dem damaligen Ministerpräsidenten Alfons Goppel die erste Maß des neuen Salvators. „Salve pater patriae. Bibas, princeps optime!“, ruft seither der Brauereichef, wenn er dem Landesvater in Anlehnung an die Anekdote um Kurfürst Karl Theodor den ersten Schluck zum Probieren bietet.

Die einleitende Salvatorrede ist bis heute fester Programmpunkt – und steht durch die Jahrzehnte besonders im Fokus: Wie viel darf man austeilen, um die Politprominenz nicht zu vergraulen? Wie viel Pfeffer muss man streuen, um nicht zu langweilen? Gerade in jüngerer Zeit sorgte manch harte kabarettistische Auslassung für Ärger – mit einer Mama Bavaria statt zürnendem Fastenprediger waren die Wogen geglättet.

1970 löste ein einziges Salvatorspiel die künstlerisch-kabarettistischen Einzelauftritte ab. Erst aus Bayern, dann auch aus der Bundespolitik wurden Politiker*innen mit ihren Doubles im zum Polit-Musical verwandelten Singspiel konfrontiert.

Doch war all dieser Medienrummel um das Salvatorspektakel mit der Neutralitätspflicht der Politiker gegenüber Gewerbetreibenden vereinbar? Das Aufmucken der Konkurrenz in den 1970er-Jahren verpuffte – der vermeintlichen Tradition seit Kurfürstenzeiten wegen, und weil es doch Werbung für die ganze Gattung Fastenbier, also auch für andere Brauereien, sei.

Pilgerströme zum nach einem Brand 2003 neu errichteten Nockherberg hinauf, wie man auf Bildern früherer Zeiten sieht, gibt es heute nicht mehr, Staus am Einlass immer noch. Die Salvator-Ritter sind weitgehend gezähmt. Inzwischen entfällt nur gut ein Prozent des jährlichen Paulaner-Bierausstoßes auf das Starkbier – aber aufgeben würde die zum Großbrauereikonzern gewachsene Paulaner-Gruppe (70 Prozent Schörghuber Unternehmensgruppe, 30 Prozent Heineken International B.V.) den Salvator nicht – gerade in Zeiten wachsender Konkurrenz im Bereich der Craftbiere und wegen des Misstrauens der Konsumenten gegenüber dem Industriebier sind das Starkbier und der Kult um die Eröffnung der Starkbiersaison ein unverzichtbarer Imagefaktor. Der Salvator sei Paulaners Marken-DNA, schreibt Richard Winkler. (Karin Dütsch)

Abbildungen:
Gerne wurde Gästen der Zylinder platt gehauen. Beliebt war schon früher das Tanzen auf dem Tisch. Die Ausschnitte stammen aus Illustrationen der Jahre 1877 und 1881.    (Fotos: BWA)

1965 überreichte Brauereidirektor Bernhard Scheublein erstmals dem Ministerpräsidenten, hier Alfons Goppel, die erste Salvatormaß des Jahres.    (Foto: BWA/Kurt Huhle)

Information:
Richard Winkler, Der Salvator auf dem Nockherberg, Volk Verlag, München, 2020, 304 Seiten, 39 Euro. ISBN 978-3-86222-365-7

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