Kultur

Knatternd davonbrausen konnte man mit dem Motorrad Victoria „KR1“ von 1920. (Foto: Museum Industriekultur Nürnberg)

02.10.2020

Raserei im Wartesaal

Das Haus der Bayerischen Geschichte zeigt in Regensburg, wie es im Bayern der 1920er-Jahre zuging

Zwischen Inflation und Weltwirtschaftskrise, zwischen Marschmusik und Charleston, zwischen Grippeepidemie und Massenarbeitslosigkeit – die 1920er-Jahre waren in Deutschland eine in vielerlei Hinsicht bewegte Zeit: der erste deutsche Versuch der Demokratie, die kurze Zeit zwischen zwei Weltkriegen, zwischen Kaiserreich und Nazi-Diktatur, eine Blüte der Kultur, eine rasende Moderne. Zugleich eine Phase steter politischer Verunsicherung mit Putschversuchen und einem hohen Maß an Gewalt als Mittel der Innenpolitik. Ein Teil des Landes raste in Richtung Fortschritt, ein anderer wollte rasend gerne zurück zu einem vermeintlichen Kuscheldeutschland, das es nie gab. In all dieser Raserei in entgegengesetzte Richtungen zerriss es die Republik.

Mit Tempo, Tempo ist die Ausstellung über Bayern in den 1920ern im Regensburger Haus der Bayerischen Geschichte deshalb recht passend und knackig betitelt – ganz abgesehen davon, dass, wie in der Schau zu sehen, das Tempo als Papiertaschentuch eine in den Vereinigten Papierwerken in Nürnberg in jenen Jahren erfundene Schnäuznovität war.

Modernisierung, Mode und Mobilität: Es herrschten also goldene Jahre. Und dennoch hatte sich auch die Anmutung eines Wartesaals breitgemacht, wie ein raffiniert produzierter Film von und mit Christoph Süß heißt: Eine zutiefst verunsicherte Gesellschaft wartete auf irgendetwas – und sei es irgendein Erlöser, ein Übermensch, ein Führer. Und so kam es dann auch.

Starke Frauen

Man kann in Film und Ausstellung durchaus Parallelen zur Gegenwart finden. Das beginnt ganz banal in der plötzlichen Omnipräsenz des Bilderschießens, damals mit den völlig neuen Kameras für jedermann (schöne Stücke werden da gezeigt), heute mit den Mobiltelefonen. Und das endet mit der Falle eines bissig dahergeplärrten Versprechens einer heilen völkischen Zukunft, die glatterdings ins Verderben führte. Das war vor 100 Jahren keine zwingende historische Notwendigkeit und ist es heute genau deswegen noch desto weniger.

Der Film zeigt eine Gesellschaft im Wartesaal des Lebens, erinnert aber auch an die kraftvolle Frauenbewegung zu jener Zeit: Die Erinnerung daran war wie so vieles im Wesen der Weimarer Republik auch nach dem Krieg wie weggewischt. In Regensburg wird dankenswerterweise unterstrichen: Da ist viel Luft nach oben in der Erinnerungsarbeit an Frauen wie Anita Augspurg und Ellen Ammann, eine Landtagsabgeordnete der Bayerischen Volkspartei, die zum Scheitern des Hitlerputsches beigetragen hat.

Auf der anderen Seite der inneren Zeit-Landkarte wiederum ist Josephine Baker, jene Tänzerin, die die Lebenslust der Dekade verkörperte und deren Auftritt 1929 in München untersagt wurde: zu viel Lebenslust womöglich.

Mit 100 Exponaten auf 400 Quadratmetern in sechs Abteilungen gibt Tempo, Tempo einen guten Einblick in damaliges Leben und die Stimmungslage. Die große Bandbreite beweisen etwa Hörproben der lesenden Oskar Maria Graf, Bertolt Brecht und Ödön von Horváth neben solchen mit exquisiten Schlagern wie Was macht der Maier am Himalaya? und Benjamin, ich hab nichts anzuziehn.
Tempo heißt auch Mobilität, und so gehört ein K 3 der fränkischen Faun-Automobilwerke zu den Glanzstücken der Schau – neben einem zeitgenössischen Motorrad und einem blutrünstigen Warnschild vor den Gefahren des Verkehrs. Erfindungen wie Föhn, Staubsauger, Kaffeemaschine, Zapfsäule, Schreibmaschine prägten die Zeit und prägen demzufolge die Ausstellung.
Es geht also um den normalen Alltag in jenen Jahren, an deren Anfang und Ende Krisen stehen. Auch das ist im Haus der Bayerischen Geschichte in Regensburg gut dokumentiert: bis hin zur Schießscheibe, auf der der so verhasste Friedensvertrag von Versailles zu treffen war. (Christian Muggenthaler)

Information: Bis 7. Februar 2021, Haus der Bayerischen Geschichte – Museum, Donaumarkt 1, 93047 Regensburg. Di. bis So. 9-18 Uhr. www.museum.bayern.de

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