Kultur

Nikolaus Habjan führt selbst eine der fast lebensgroßen Puppen, nämlich die Figur des Mesrin. (Foto: Dashuber)

19.01.2018

Skrupellose Versuche

Nikolaus Habjan inszeniert „Der Streit“ von Marivaux als beeindruckendes Puppenspiel

Für alle zartbesaiteten Zuschauer können wir Entwarnung geben: Leichen werden an diesem Abend keine seziert, auch wenn das Bühnenbild von Jakob Brossmann und Denise Heschl einen Anatomie-Hörsaal samt greller Operationslampe darstellt. Wissenschaftlich geht es dort gleichwohl zu, denn wir sehen quasi frühe Verhaltensforscher am Werk, die ihre Studien nicht an Graugänsen, sondern an Menschen betreiben. Ein Prinz und eine Fürstin wollen ergründen, ob die Untreue durch den Mann oder durch die Frau in die Welt kam. Zu diesem Zweck führen sie einen Versuch durch: Zwei Jungfern und zwei Jünglinge – alle wuchsen von Geburt an isoliert auf und bekamen nur das alte Dienerpaar zu Gesicht, das sie betreute – werden nun in wechselnden Konstellationen erstmals aufeinander losgelassen. Diese Simulation eines vermeintlichen anthropologischen Urzustands soll klären, wie der Mensch vermeintlich von Natur aus ist. Doch leider erweist sich das Ergebnis als ziemlich ernüchternd für beide Geschlechter. Die Männer werden untreu, weil sie einfach jede attraktive Frau vernaschen wollen. Bei den Frauen hingegen hat die Untreue nicht triebhafte Ursachen, sondern erwächst aus Eitelkeit und Eifersucht: Jede möchte der anderen den Mann ausspannen, um zu beweisen, dass jeweils sie selbst die viel Schönere, Begehrtere ist.
In der Inszenierung von Nikolaus Habjan wird Pierre Carlet de Marivaux’ etwas anderes Kaspar-Hauser-Experiment zum witzigen, aber harmlosen Rokoko-Kasperlspiel im stilechten Rahmen des Münchner Cuvilliéstheaters. Der österreichische Puppenbauer und -spieler Habjan ist derzeit der Star der Szene, der auch schon an der Münchner Oper die Puppen tanzen ließ. Am Residenztheater hat er sich Marivaux’ pädagogische Schäferspiel-Komödie Der Streit vorgenommen. Außer ihm selbst führen die Schauspieler Oliver Nägele, Arthur Klemt und Mathilde Bundschuh die fast lebensgroßen Marionetten, die zwar ohne Unterleib auskommen, sich aber in einer Puppenporno-Einlage schon mal unter die Röcke kriechen. Und wenn die Puppen-Mädels in übertriebener Weibchenhaftigkeit herumscharwenzeln, wenn die männlichen Darsteller mit künstlichen Piepsstimmen die Frauenrollen sprechen, dann passt diese komische Parodie bestens zu den Stereotypen, die Marivaux’ Figuren ja ganz zeittypisch sind. Aber wiewohl dieser Autor natürlich keine realistische Szenerie im Sinn hatte, sondern eher ein allegorisches Thesendrama entwirft.

In Einzelteile zerlegt

Eigentlich steckt in seinem scheinbar leichtfüßigen Lehrstück von 1744 schon die ganze Dialektik der Aufklärung: Erkenntniswille geht hier mit völlig skrupellosen Menschenversuchen Hand in Hand, und die feudale Verfügungsgewalt über Untertanen wandelt sich bruchlos in wissenschaftlich legitimierte Instrumentalisierung des Individuums. Nicht ohne Grund und passend zum gelungenen Bühnenbild werden die Puppen am Schluss von den Schauspielern in ihre Einzelteile zerlegt, also buchstäblich zergliedert und dann auf einer Leichenbahre hinausgekarrt. (Alexander Altmann)

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