Kultur

Die Rocksäume zipfeln etwas – haben die Hostessen kurz vor dem Fototermin noch schnell ihre Dirndl gekürzt? (Foto: BSB/Bildarchiv/Georg Fruhstorfer)

27.05.2022

Superkatalysator für München

Die Bayerische Staatsbibliothek lässt in 140 Fotografien die XX. Olympischen Spiele Revue passieren – jenseits der sportlichen Höhepunkte

Sommer 1972: München steht Kopf. Die Olympiade gastiert in der Landeshauptstadt. Es sollen fröhliche Spiele werden – letztendlich werden es tragische. In Aufnahmen aus dem Bildarchiv der Bayerischen Staatsbibliothek sieht man die Geschichte dieses Sportevents und wie es die Stadt nachhaltig verändert hat.

Orangerote Streifen deuten eine Tartanbahn mit drei Startnummern an. Folgt man der Spur, gelangt man tatsächlich zu einem dreistufigen Siegerpodest – und darf es ausdrücklich erklimmen: Weniger wegen einer Medaille für besonders schnelles Durcheilen der Ausstellung, sondern für ein Selfie – und zwar vor der Kulisse des Münchner Olympiageländes. Der Clou: Die veritable Vergrößerung einer Aufnahme von Joachim Kankel zeigt das Areal im August 1972.

Aber das Feixen ob der foto-gefakten Zeitreise zu den Olympischen Spielen in München vergeht, wenn man das Panorama analysiert: Im Vordergrund zieht sich entlang des Olympiasees die damals installierte Spielstraße mit ihren fast an einen Schwarm weißer Friedenstauben erinnernden weißen Ballons. Hätte Kankel erst einige Tage später das Foto geschossen, wäre dort nichts mehr vom lockeren Treiben zu sehen gewesen: Die Spielstraße wurde geschlossen – aus Pietät: Am 5. September hatten palästinensische Terroristen ein Blutbad angerichtet, elf israelische Olympioniken und einen deutschen Polizisten ermordet. Der Zauber dieser als fröhlich apostrophierten Spiele trug über Nacht Trauerflor.

Die fröhlichen Spiele tragen Trauerflor

Vier kess posierende und lächelnde Olympiahostessen in leuchtend hellblauen Dirndln – darunter ein Foto von einem der vermummten Terroristen auf einem Balkon des Olympischen Dorfes: Die Konfrontation mit diesen beiden Fotoikonen ist krass und steht am Anfang der Ausstellung Olympia 72 in Bildern. „Weltweit erinnert man sich an diese Olympischen Spiele in München eben vor allem wegen des Attentats, und nicht der Fröhlichkeit wegen“, erklärt Cornelia Jahn, die gemeinsam mit Katharina Wohlfart diese Fotoschau in der Bayerischen Staatsbibliothek (BSB) in München kuratiert hat.

Der plakative Fingerzeig deutet vom einen Galeriegang im ersten Stock der Bibliothek hinüber zum gegenüberliegenden und damit ans Ende des Ausstellungsrundgangs: Dort sieht man das übergroße Foto einer Frau mit zwei Kindern: Sie ist die Witwe eines der Ermordeten.

Zwischen diese Klammer haben die Kuratorinnen in fünf Kapiteln 140 Fotografien sortiert, die sie aus dem Fundus der rund 19 Millionen starken BSB-Fotosammlung herausgesucht haben. Bei der Auswahl haben sie sich auf die Sammlungen legendärer Fotograf*innen gestützt: Zum Beispiel der Lokalgrößen Felicitas Timpe und Georg Fruhstorfer, vor allem auch der erst in jüngster Zeit übernommenen Archive von Max Prugger sowie Karsten de Riese, und natürlich aus dem grandiosen analogen Stern-Archiv, das 2019 in die BSB kam.

Stadtentwicklung wie im Zeitraffer

Die Ausstellung erzählt keine Geschichten von Gold und Silber, von sportlichen Bestleistungen, sondern fasst augenfällig die Bedeutung der Olympiade als gesellschaftliches, politisches und kulturelles Phänomen zusammen. Dabei geht es zunächst um die Bedeutung dieses Superevents für die Stadtentwicklung. Das Luftbild im Ausstellungsflyer ist zwar nicht identisch mit jenem auf fast Wandgröße hochgezogenen in der Schau, aber die Einzeichnungen von Park und Sportstätten helfen, auf das ehemalige, fast leere Oberwiesenfeld die Olympiaanlagen gedanklich zu projizieren.

Dass Olympia mit der Umwidmung des einstigen Flugfelds in Europas damals größten Sportpark nicht nur dieses Areal im Münchner Norden umgestaltete, sondern dass das Großereignis wie ein Katalysator für die 1963 unter Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel (SPD) beschlossene Stadtentwicklung wirkte und von prognostizierten 30 auf sechs Realisierungsjahre verkürzte, skizzieren signifikante Motive: Vor leidlich verwahrlosten Altbauhinterhöfen sieht man die Plakattafel „München wird moderner“ samt Hinweis auf den Bau der U-Bahn – es sollte neben Berlin und Hamburg die erst dritte U-Bahn in einer westdeutschen Stadt werden. Die Eröffnung der ersten Station „Alte Heide“ feierte man 1968 werbewirksam mit einer Modenschau am Bahnsteig.

Die Bahn im Untergrund, die Fußgängerzone oberirdisch: Wie hat die Neugestaltung der Kaufingerstraße – unter Protest des Gewerbes – doch das Bild von Münchens Innenstadt verändert! Eröffnet wurde die Zone im Juni 1972. Fotografische Gegenüberstellungen zeigen den Wandel. Zur Entlastung des innerstädtischen Verkehrs wurden breite Ringstraßen gebaut. Besonders heikel der zwischen 1969 und 1971 gebaute Georg-Brauchle-Ring: Er durchschneidet das Olympiagelände; ihn zu integrieren war eine besondere Herausforderung für die Architekten, die sich am Wettbewerb für die Olympiaanlagen beteiligten.

Architektur im Zeichen von Spiel statt Kult

Aus dem Wettkampf der Architekten ging Günter Behnisch mit seinem Team als Sieger hervor. Sein Grundprinzip: Nichts sollte mehr mit den Olympischen Spielen 1936 in Berlin und unter nationalsozialistischen Vorzeichen in Verbindung gebracht werden können. Keine „Architektur der Herrschaft“, keine Ehrfurcht gebietenden Monumentalbauten – Spiel statt Kult sollte unmittelbar erkennbar und erlebbar werden. Deshalb auch Sportstätten in Erdbauweise: Sie wachsen in weichen, runden Formen wie organisch von unten in die sanft modellierte Landschaft, wirken geradezu olympisch-unernst im Vergleich zu bisherigen Kolossalbauten. Luftaufnahmen geben auch einen Überblick über das mäandernde Wegesystem von Parkgestalter Günther Grzimek: Hier werden die Menschen nicht wie bei einem Aufmarsch zu sportlichen Kultstätten geleitet, sondern animiert, sich diesen riesigen Erlebnisgarten individuell anzueignen. Ausdrücklich war „Betreten erlaubt!“

Das allmähliche Wachsen des gesamten Sportparks mit seinen Gebäuden dokumentieren hervorragend Luftbildaufnahmen von Max Prugger. Und dann sind da Karsten de Rieses Aufnahmen vom transparenten Zeltdach, der eigenwilligen Konstruktion, die bis heute als architektonisches Highlight gefeiert wird.

Otl Aichers konsequente Corporate Identity

Das Erscheinungsbild der Olympiade – wie es sich auch im ganzen Stadtraum und im weltweiten Marketing präsentierte – komplettierte das Design von Otto „Otl“ Aicher, der seit 1966 offizieller Gestaltungsbeauftragter war. Erstmals für eine Olympiade gelang eine umfassende, moderne Corporate Identity – von der Typografie bis hinein ins Mobiliar und in Piktogramme kann man es in dieser Fotoausstellung verfolgen. Die ist zwar überwiegend mit damals noch gängigen Schwarz-Weiß-Fotografien bestückt, die wenigen Motive in Farbe rufen aber das markante Farbenspiel in Erinnerung: Blau (vor allem Hellblau), Grün, Silber, Weiß, Gelb, Orange sollten den Himmel über Bayern und seine Landschaften repräsentieren – selbst der Waldi war derart bunt.

Dieses Maskottchen präsentiert auch eine der vier Hostessen, die Georg Fruhstorfer fotografierte – im Hintergrund die Olympiaskyline mit Fernsehturm, Zeltdach und Hochbauten des Olympiadorfs. Dieses Motiv wirbt derzeit auf Plakaten und auf dem Katalog für die BSB-Ausstellung. Amüsiert macht Kuratorin Cornelia Jahn auf dieLänge der Hostess-Dirndl aufmerksam: Da scheinen die Frauen vielleicht noch kurz vor dem Fototermin und auf die Schnelle Hand angelegt und die Säume – nicht sehr professionell – nach oben haben wandern lassen. Solche Dirndl sind begehrte Sammlerstücke – ein Original ebenso wie einer der Männeranzüge kann man in der Ausstellung sehen.

Entworfen wurden sämtliche Olympia-„Uniformen“ – ebenfalls für all die anderen Hilfskräfte – vom Couturier André Courrèges. Abermals wurde konsequent die Aicher-Farbpalette umgesetzt, schön zu sehen auf einer Farbfotografie von Thomas Höpker aus dem Stern: Neben den Hostessen in Hellblau und Weiß laufen eine Platzanweiserin in Orange, eine Wettkampfhelferin in Grün und Grau, eine Stewardess des Olympiadorfs in Silber und eine Reinigungs- beziehungsweise Servicekraft in Gelb.

Aber ja kein Rot und Schwarz! Das waren die Farben des Nationalsozialismus und der Olympiade von 1936 – davon wollte man sich 1972 plakativ distanzieren. Das betraf auch die Beflaggung: Otl Aicher wollte Nationalfahnen generell verbannen und einzig die Olympiaflaggen (ein Original in der Ausstellung) flattern lassen. Die Länder machten aber nicht mit – zumindest entlang des Olympiastadions durften sie ihre Fahnen hissen, wie man auf einem Foto von Georg Fruhstorfer sieht. Anderswo wehten jedoch nur die Olympiafahnen – und zwar an Masten, die zu Pulks arrangiert waren. In Reih und Glied hätte ein solches Fahnenmeer Assoziation zu politpropagandistischen Aufmärschen entstehen lassen können.

DDR-Gäste beschweren sich über Presseverfolgung

Indes wollte man diese XX. Olympischen Spiele natürlich auch propagandistisch verstanden wissen: im positiven Sinn als Demonstration für ein demokratisches Deutschland – für eine demokratisierte Bundesrepublik Deutschland muss man präzisieren. Denn erstmals traten in München die Olympioniken der DDR als solche gekennzeichnet, mit eigener Flagge und Hymne auf – bei der Olympiade 1968 firmierten sie noch unter „Ostdeutschland“. Damit die 2000 ausgesuchten und gebrieften DDR-Gäste nicht allzu sehr zu westlicher Demokratie verführt wurden, sonderte man sie vorsichtshalber ab: Untergebracht waren sie weit ab von München, ihr Zusatzprogramm war vom DDR-Informationsbüro im Münchner Hauptbahnhof vorgegeben. Es gab Beschwerden wegen Belästigungen: Tatsächlich verfolgten Journalisten (und Fotografen, wie die Ausstellung belegt) die Ost-Gäste, um sie über die DDR auszuhorchen. Sie bissen auf Granit.

An Medienvertreter*innen wimmelte es während des sportlichen Superevents nur so in München, auf dem Olympiagelände gab es ein großes Pressezentrum. Aber das Medienspektakel offenbarte sich auch als fatal: Livekameras verfolgten alles rund um die Geiselnahme im Olympiadorf – auch einen Befreiungsversuch: Die Geiselnehmer im Innern waren via Fernsehempfang gewarnt.

Das Attentat drückte dieser Olympiade vollends den Stempel des Politischen auf. Mitglieder der palästinensischen Terrororganisation Schwarzer September nahmen im Olympiadorf israelische Geiseln, um Palästinenser in israelischer Haft ebenso wie die in Deutschland inhaftieren RAF-Terroristen Andreas Bader und Ulrike Meinhof freizupressen. Das Drama endete in einem Blutbad. Die Ausstellung zeigt neben bekannten Motiven wie jenem des vermummten Attentäters auf einem Balkon auch viele unbekannte Einstellungen, sie stammen vor allem aus dem Stern-Archiv: Man sieht Begegnungen zwischen Terroristen und Verhandlungsführern, einen über Balkone fliehenden Athleten, Fotos zeigen auch einen der ausgebrannten Hubschrauber auf dem Flugplatz Fürstenfeldbruck, wo das Geiseldrama beim letzten missglückten Befreiungsversuch brutal endete.

Besuch bei den Witwen der Opfer

Die Reaktionen und Folgen des Attentats sind ebenfalls in dieser Ausstellung mit wenigen Motiven umrissen – in einem Seitengang und damit in würdevoller Distanz zum Rückblick auf die gefeierte Architekturgeschichte und das Bunte der „fröhlichen Spiele“: Aufnahmen von der Trauerfeier im Olympiastadion, vom Abflug der israelischen Mannschaft mit den Särgen ihrer toten Kollegen an Bord, von ihrer Ankunft in Tel Aviv. Ausgespart sind nicht Reaktionen auf das Attentat in arabischen Ländern: Demonstrationen und Feiern für die Attentäter als „Helden“. Daneben gestellt sind Aufnahmen von Witwen und Überlebenden der israelischen Mannschaft.

Die Olympischen Spiele gingen weiter. Bei der Schlussfeier gab es eine Schweigeminute. Anstelle eines Feuerwerks schwebte ein leuchtender Regenbogen aus Helium gefüllten Schläuchen am nächtlichen Himmel über dem Olympiasee: Die Installation von Otto Piene war von vorneherein geplant – als Symbol fürs Verbindende der olympischen Idee. Nun wurde es ein hoffnungsvolles Lichtzeichen auch gegen düsterste Gewalt. Piene wollte mit seiner Kunst Licht in die Welt bringen – in die Aufarbeitung des Olympia-Attentats gelangte es nicht so bald.  (Karin Dütsch)

Abbildungen:
Max Prugger machte aufschlussreiche Aufnahmen von der riesigen Baustelle aus einem Flugzeug. Hier sieht man das Olympiastadion, die Olympiahalle (vorne rechts) und die Schwimmhalle im Entstehen (1970). Sie waren von dem Architekturbüro Behnisch und Partner als Erdstadien konzipiert worden.    (Foto: BSB Bildarchiv/Max Prugger)

Ein Bild, das um die Welt ging: Ein maskierter palästinensischer Terrorist auf einem Balkon in der Connollystraße, wo israelische Sportler in Geiselhaft genommen wurden.     (Foto: BSB/Sternarchiv/Volker Hinz-Sven Simon)

Information:
Bis 4. September. Bayerische Staatsbibliothek, Ludwigstraße 16, 80539 München. Aktuelle Öffnungszeiten unter www.bsb-muenchen.de

Cornelia Jahn, Katharina Wohlfart, Olympia 72 in Bildern, Volk Verlag, München, 192 Seiten, 29,90 Euro, als Katalog in der Ausstellung 24,90 Euro. ISBN 978-3-86222-424-1

 

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