Kultur

Wie ein Damoklesschwert senkt sich die Disco-Kugel über Liliom und seine Frau (Steven Scharf und Anna Drexler). (Foto: Julian Baumann)

14.03.2014

Unter der Abrissbirne

Stephan Kimmig treibt an den Münchner Kammerspielen Ferenc Molnárs "Liliom" den Kitsch aus

Warum in den letzten Jahren so viele Theater Ferenc Molnárs Liliom ausgegraben haben, blieb bislang eher unklar. Jetzt nahmen sich auch die Münchner Kammerspiele der berühmten „Vorstadtlegende“ von 1909 an – und endlich hat’s geklappt: Regisseur Stephan Kimmig trieb der tragischen Milljöh-Idylle, die es einst bis nach Hollywood und an den Broadway schaffte, den Kitsch aus.
Das zartbittere Melodram vom arbeitslos gewordenen Schiffschaukelbremser Liliom, der sich nach einem gescheiterten Raubüberfall selbst entleibt und nach 16 Jahren Fegefeuer einen Tag zur Gattin samt Tochter zurückkehren darf, ist diesmal saukomisch und erschreckend zugleich – aber eines nicht: eine Schnulze.
Als buchstäblich runde Sache erweist sich die Aufführung schon wegen der riesigen Disco-Kugel, die funkelnd über der völlig leeren, schwarzen Bühne hängt wie ein Damoklesschwert. Das grotesk überdimensionierte Glitzerding, das sich im Laufe des Abends bedrohlich immer tiefer senkt und zu schwingen anfängt wie die Abrissbirne des Schicksals, ist passendes Sinnbild dessen, was zu Molnárs Zeiten der Rummelplatz war: die schale Massenbespaßung für untere Schichten. Dass der gewalttätige Vorstadtstrizzi Liliom zu denen gehört, und dass deren Dasein nicht zur Verklärung taugt, daran lässt die illusionslose Inszenierung von Stephan Kimmig keinen Zweifel.
Steven Scharf spielt diesen Karussell-Ausrufer nicht als heroischen Underdog, sondern als Kotzbrocken, der gelegentlich Charme entwickeln kann und dem die Frauen noch verzeihen, dass er sie verprügelt. Kein angenehmer Zeitgenosse also, darin vergleichbar der Figur des Zampano aus Federico Fellinis La Strada. Und doch ist Liliom, der nicht grundlos zu Eingeweide-erschütterndem Bass-Wummern einen linkischen Zappeltanz unter dem silbernen Kalb der Disco-Kugel aufführen muss, in dieser Inszenierung ein ganz entfernter Verwandter von Woyzeck: Produkt einer bizarren Deformation durch „die Verhältnisse“, einer der nicht weiß, wie ihm geschieht.

Moonboots und Stelzen

Es entspricht dieser Verzerrung ferngesteuerter Persönlichkeiten, dass Kimmig die Personen zu zart-grell überzeichneten Comic-Figuren hochschraubt (auch dank der schrägen Kostüme von Anja Rabes): Herrlich ist Wiebke Puls als hysterisch stutenbissige Ringelspielbesitzerin in Moonboots, Walter Hess und Stefan Merki als knurrige Obrigkeitsvertreter auf Stelzen oder Elektrorollern, Marie Jung und Christian Löber als Spießerpärchen und Katja Bürkle als beunruhigend schmieriges Revuegirl mit Vollbart.
Faszinierend, wie all die Spitzenschauspieler mit hochpräziser Künstlichkeit eine hyperrealistische Alptraum-Stimmung erzeugen – und doch in ihren typenhaften Schießbudenfiguren immer wieder Reflexe verschütteter Individualität aufblitzen lassen. Allen voran Anna Drexler als Lilioms leidend-liebende Gattin. Wie diese junge, erst kürzlich entdeckte Schauspielerin auf dem schmalen Grat zwischen Psychologie und Verfremdung balanciert, das ist eine der größten Sensationen an diesem großartigen, fast schon sensationellen Abend. (Alexander Altmann)

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