Kultur

Ein ungewöhnliches Konzertthema: Das Jüdische Orchester Jakobsplatz München erinnerte an die Musikkultur in Shanghai und Komponisten, die dort einst Zuflucht fanden. (Foto: Orchester Jakobsplatz München)

24.11.2015

Unterschlupf in Shanghai

Das Jüdische Orchester Jakobsplatz erinnert an einen fernen Zufluchtshafen für Juden, die vor den Nazis flohen

Wenn man im Internet nicht aufpasst, erwischt man bei "Wolfgang Fränkel" einen Mitarbeiter der Reichsanwaltschaft im "Dritten Reich", der ab 1962 zum Generalbundesanwalt avancierte. Aber eigentlich sucht man ja den jüdischen Komponisten Wolfgang Fraenkel (1897 bis 1983): Der war den Nazis nach seiner Gefangenschaft in Sachsenhausen in den "Hafen der letzten Zuflucht" entkommen. Das war Shanghai, die einzige Stadt der Welt, die damals Menschen ohne Pass oder Visum aufnahm, ein Schmelztiegel von 30.000 Flüchtlingen inmitten von 6,5 Millionen Menschen. Ab 1939 lebte Wolfgang Fraenkel mittendrin.

Lustige Witwe in der Turnhalle

Jetzt war dieses Shanghai Titel eines Konzerts von Daniel Grossmann und seinem jüdischem Orchester Jakobsplatz München. Das viel zu wenig bekannte Thema, der viel zu wenig bekannte Fraenkel rechtfertigten die Überlänge des Abends in der Münchner Reithalle: mit Musik und Video-Interviews von Zeitzeugen mit einer Kindheit in Shanghai. "Das Wiener Stübl" hieß einer der Treffpunkte der jüdischen Flüchtlinge, in Turnhallen spielte man "Die lustige Witwe", Shanghai Municipal Orchestra hießen die Symphoniker, wo Fraenkel unterschlüpfen konnte, Shanghai Conservatory of Music die Musik-Berufsschule, wo er ab 1941 Lehrer für Musiktheorie und Komposition war. Besonders der Musiktheorie der atonalen Zwölftontechnik seines Vorbilds Arnold Schönberg, den er erst später in Los Angeles persönlich kennenlernte.

Jüdischer Komponist und der Koran

Grossmann und das Orchester Jakobsplatz spielten die "82. Sure des Koran" (noch aus Fraenkels Zeit in Deutschland) mit ihrer Vision des Jüngsten Gerichts – ungewöhnlich genug für einen jüdischen Komponisten und ein Stück, das wie Schönberg kurz nach seiner atonalen Wende klingt, streckenweise mit ungewöhnlich viel Temperament aufgeladen ist und in der fabelhaften Altistin Qiu Lin Zhang eine vorzügliche Interpretin fand: außerordentlich ausdrucksvoll mit ihrer suggestiven, dramatischen Altstimme in Erda-Format. Die kam auch dem Abschluss des Konzerts zugute, wo sie den "Abschied" aus Gustav Mahlers "Lied von der Erde" in der Originalsprache der uralten chinesischen Gedichte sang: mehr als eine Kuriosität. Shanghai, das wollte Grossmann an diesem dicht komponierten Abend auch in chinesischer Gegenwartsmusik spiegeln: In New York hatte er Huang Ruo kennengelernt, der dort Komposition unterrichtet – im Stil des "Dimensionalism", was die verschiedenen Dimensionen von moderner westlicher und traditionell chinesischer Musik bedeutet.

Sheng-Töne wie vom Maschinengewehr

"The Color Yellow" heißt sein Stück für Kammerorchester und "Sheng" – welche Farbe sollte ein Chinese sonst vertonen? Dazu war der Sheng-Virtuose Wu Wei nach München gekommen, um auf seiner "Mundorgel" virtuos dieses exotisch instrumentierte Stück zu spielen, das offenbar dem Duktus der chinesischen Sprache folgt: für europäische Begriffe sehr expressiv und in der hinreißenden Vielfalt von Schlagholz, Muschelhörnern, Trillerpfeifen und aspirierten Holzbläsern - und natürlich dieses Sheng-Töne-Maschinengewehrs. Das Publikum war begeistert. Eher entbehrlich erschien danach Ruos "Leaving Sao": von der Mundorgel zur Heulboje. Keineswegs entbehrlich aber war dieser ganze Abend, waren die authentischen Kindheitserinnerungen: "Geht auf die Straße, da ist Kultur!", sagte ihr Vater zu der kleinen Sonja Mühlberger, weil er in Shanghai kein Geld für Theater oder Konzert hatte. Natürlich fragte man sich, ob einer der Flüchtlingsväter heute in Deutschland das auch sagen würde. (Uwe Mitsching)
 

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