Kultur

Eindringlich verlebendigen die Schauspielerinnen (im Vordergrund Christina Jung) die „Sprech-Akte“ zu den Schicksalen der Ermordeten. (Foto: Jan-Pieter Fuhr)

03.03.2023

Was stört, das lebt

„Frauen der Unterwelt. Sieben hysterische Akte“ von Tine Rahel Völcker wurde in Augsburg uraufgeführt und ist unbedingt sehenswert

Schon der Titel macht neugierig und stellt klar, was die Autorin mit ihrem auf intensiver Recherche basierenden Theatertext nicht wollte: Ihr Stück will kein konventionelles Dokumentartheater sein. Vielmehr könnte man es als furiose, sprachlich aufwühlende „Trauerarbeit“ wider das Vergessen sehen, als dramatische Aufarbeitung eines der vielen dunklen Kapitel der NS-Verbrechen.

Mehr als 70 000 Ermordete

Frauen der Unterwelt. Sieben hysterische Akte stellt die Schicksale von Opfern der einstigen Heil- und Pfleganstalt Pirna-Sonnenstein (heute eine Gedenkstätte nahe Dresden) ins Rampenlicht. Die Autorin erinnert an die sogenannten Krankenmorde und damit auch an die „Aktion T4“. Benannt nach der Berliner Adresse ihrer Zentraldienststelle in der Tiergartenstraße 4 entschieden Gutachter nach Krankenakteneinsicht über Leben und Tod der Patientinnen und Patienten. 1941 wurde diese Aktion aufgrund der kritischen Predigt von Clemens August Graf von Galen (damals Bischoff in Münster) gestoppt. Insgesamt waren es mehr als 70 000 Menschen, die im Rahmen der Aktion sterben mussten, allein in Pirna waren es in nur zwei Jahren, 1940 und 1941, mindestens 13 719.

Bis heute wird den Angehörigen und Familien der Opfer dieses Massenmords eine Aufarbeitung verwehrt, über die Todesursachen besteht weitgehend Unklarheit und die offizielle Anerkennung als Opfer der Euthanasieprogramme steht noch immer infrage: Die Ermordeten werden weder als politisch, noch rassisch oder weltanschaulich Verfolgte angesehen.
In Völckers Frauen der Unterwelt geht es um Widerstand, um Eigenheiten und Eigentumsrechte am eigenen Körper, um die (Nicht-)Beherrschung eines unbequemen Geistes. Ein gelebtes Anderssein barg immer schon Sprengstoff in sich, weil und wenn es gesellschaftliche Normen und Regeln störte. Es wurde als krank und abnorm, als nicht lebenswert definiert, selbst wenn diese Menschen eigentlich – wie auch im Stück gezeigt – „nur“ fortschrittlich, emanzipiert, verträumt sein wollten, Anerkennung und Fürsorge statt Vernichtung gebraucht hätten.

Die im Kollektiv erarbeitete und nicht auf konkrete Figuren oder Rollen festgelegte Textaufspaltung der Inszenierung für die Brechtbühne trägt dem besonderen Theaterformat der „Sprech-Akte“ Rechnung. Regisseurin Nicole Schneiderbauer, Bühnenbildnerin Miriam Busch, die Videokünstlerin Stefanie Sixt und ein starkes, flexibles, körperlich einsatzfreudiges und von der sprachlichen Wucht der Texte sichtlich überzeugtes Ensemble machten die Premiere zum sehenswerten Erlebnis, in dem die perkussiven Akzente von Musiker Fabian Löbhard spannungsvoll nachhallen.

Lautstark Gehör verschaffen sich als Frauen der Unterwelt: die lesbische Journalistin Ann Esser, die sich als überzeugte Kommunistin selbst in der Anstalt darum bemüht, unhaltbare Arbeitsbedingungen der Wärterinnen anzuprangern; die achtfache und ziemlich chaotische Mutter Frieda W., die man heute als Sexarbeiterin verunglimpfen würde, sowie die junge Lina, deren Liebe zu einem gesellschaftlich höher stehenden jungen Bauernsohn von den eigenen Eltern mit Gewalt unterbunden wird. Für deren Zwangslage und sinnliches Aufbegehren wurde ein eindrucksvolles Bild mit einem übergroßen weißen Tuch erdacht, in dessen Mitte ein Hochzeitskleid inklusive der Zwangsjacke steckt.

Erschreckend ist auch das Schicksal der bewusst unverheirateten, um Unabhängigkeit ringenden Geschäftsfrau Johanna S., deren Weltbild zusammenbricht, als sie mit einem zweiten Kind schwanger ist und von ihrem Partner im Stich gelassen wird.

Im fünften Akt kommt die 90-jährige Lissa F. zu Wort, die für das Leiden ihrer Mutter spricht. Als 15-Jähriger teilte man ihr nach Kriegsende ohne weitere Erklärungen mit, dass die Mutter keines natürlichen Todes gestorben sei. Fast nahtlos an diesen Akt schließt sich die Erzählung von Klaus an, dessen Zwillingsschwester selbst die einfachsten Rechenaufgaben nicht lösen konnte, die immer so laut und lange lachte und dann im Jahr seiner Einschulung getötet wurde.

Anklage und Botschaft

Der siebte und letzte Akt zeigt Margarete B., die häusliche Gewalt erfuhr und nach der Scheidung allen Halt verliert.

Die Stimmen aller Opfer vereinen sich ein letztes Mal – ein Satz bleibt als Anklage wie auch als Botschaft an die Nachwelt lange im Ohr: „Was stört, das lebt!“
Das Publikum wird mit einem emotional intensiven Theaterabend konfrontiert: ein wertvoller Beitrag zur Erinnerungskultur. (Renate Baumiller-Guggenberger)

 

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