Kultur

Eine Frau, die nur auf ihr Herz hört: Barbara Romaner in der Titelrolle der Anna Karenina. (Foto: Arno Declair)

08.10.2010

Wenn alles ins Rutschen gerät

Leo Tolstois „Anna Karenina“ am Münchner Volkstheater

Anna Karenina ist ein Versuch über die Liebe und ihr Scheitern. Fast jeder emotionale Höhepunkt führt an eine Klippe, von der aus es schroff nach unten geht. Die verheiratete Karenina hat ein Verhältnis mit Graf Wronski, ihr Bruder Stefan führt eine labile Ehe mit Dascha, deren Schwester Kitty findet nach schmerzhafter Liebesniederlage ihr Glück mit dem zähen Lewin. Unglück und Glück sind Antriebsstoffe dieser Tolstoi’schen Existenzen; er füllt sein Personal mit amourösen Emotionen und analysiert dann, was passiert.
Jetzt ist dieses Gefühlstrumm im Münchner Volkstheater zu sehen. Eingedampft auf dreieinhalb Stunden, wirkt die Handlung wie ein Gang durch einen Märchenpark, wo Gestalten automatenhaft in Romanhandlung wandeln. In der Theaterfassung von Armin Petras und der Regie von Frank Abt ergibt sich dieser Eindruck unter anderem durch wiederkehrende Text-Wiederholungs-Schlaufen, in denen sich das Personal verfängt wie in der Unentrinnbarkeit ihres Schicksals. Fremdgesteuert von der Mechanik elementarer Gefühlsgewalten, sind diese Leute erst einmal so völlig außer sich, dass sie etwas Puppenhaftes erhalten, wie Tanzfiguren auf einer Spieluhr.
Der Text wurde zunächst zur Gänze zerfetzt und dann neu zusammengeklebt. Im Ergebnis wirkt das wie Dekonstruktivismus fürs Nachmittagsprogramm: ein Historienstück mit zeitgenössischem Grundbrummen, ein auf die Bühne übersetzter Roman, dessen naturalistischer Lebensbezug verloren gegangen und in Unnahbarkeit und Verfremdung gemündet ist. Und während vor der Pause eine Tapete im Hintergrund noch etwas wie bürgerliche Existenz fürs Personal und visueller Anhaltspunkt für die Zuschauer ist, verschwindet sie zugunsten einer Schlittschuhfläche, weil ohnehin alles ins Rutschen geraten ist.
Es sind die Schauspieler, die für ein doch noch gelungenes Übersetzungsprogramm sorgen, weil durch sie Gefühlswelten begreifbar werden. Sie entfremden die obwaltende Verfremdung, indem sie die Textstarre unterlaufen. Barbara Romaner in der Titelrolle reduziert ihre Rolle auf die Hinnahme all dessen, was ihr an Geschick zukommt, und zieht daraus Kraft, Stärke – und Schmerz – einer Frau, die nur auf ihr Herz hört. Kristina Pauls erlaubt sich als Kitty klarsichtig optimistischen Entwicklungsschub eines Mädchens zur Frau, Und Stefan Ruppe vermenschlicht Lewin durch konsequente Larmoyanz-Verweigerung, verwandelt Unglück durch Coolness in Glück.
Und so sehen wir dann doch noch Tolstoi: Wer zu sich selbst steht, steht immer auf der richtigen Seite. (Christian Muggenthaler)

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