Kultur

Als Zeichen, dass der Zentgraf die Blutgerichtsbarkeit ausüben durfte, überreichte ihm der Würzburger Bischof Melchior Zobel von Giebelstadt einen Richterstab. Die Illustration stammt aus dem Zentgrafenbuch, einem Amtsbuch, das 1558 angelegt wurde. (Foto: StAW)

11.09.2020

Wenn Richter die Ohren lang ziehen

Wann ist ein Rechtsverfahren juristisch hieb- und stichfest? Das Bayerische Hauptstaatsarchiv erzählt in einer originellen Ausstellung die Geschichte der Beweismittel

Solche Schlawiner! Und auch noch im Ordensgewand! Raffinierte Urkundenfälscher waren das: Erst haben sie die Schrift vom Pergament fein säuberlich abgeschabt – was freilich gängige Praxis angesichts der Wiederverwendung des teuren Beschreibmaterials war –, dann haben sie einen neuen Text draufgeschrieben, das Ganze auf den 12. August 903 datiert und dem König zur Beglaubigung untergejubelt. Der ist darauf hereingefallen – und hat dem Kloster St. Emmeram in Regensburg damit existenzielle Privilegien im Kampf um die Unabhängigkeit vom örtlichen Bischof bestätigt.

Wie hätte Adolf von Nassau auch erkennen können, dass die vermeintlich vor beinahe vier Jahrhunderten von Ludwig IV. („das Kind“) gesiegelte Urkunde nicht echt war? So schlau war man nämlich im klösterlichen Skriptorium, dass man zwei wichtige Bestandteile der Originalurkunde unangetastet ließ: das königliche Siegel und den „Bienenkorb“ – ein an das Imkerzubehör erinnerndes grafisch-verschnörkeltes Zeichen, mit dem einst die königliche Kanzlei die Prüfung der Urkunde bestätigt hatte.

Es blieb nicht bei diesem einen Betrug – die Emmeramer Klosterbrüder sollten noch öfters und knallhart kalkuliert solche Fälschungen zu ihren Gunsten fabriziert haben. Aufgeflogen ist diese dreiste Manipulation schon vor Längerem: „Mit dem Beginn der Diplomatik ab Ende des 17. Jahrhunderts war sie als solche erkannt. Im 18. Jahrhundert wurden von Historikern bereits Vermutungen angestellt, wer die Fälschung vorgenommen haben könnte“, erklärt Andreas Nestl von der Generaldirektion der Staatlichen Archive.

Auch wenn der Fall nicht neu aufgerollt wird, so spielt das Corpus Delicti aktuell wieder eine Rolle: als Exponat in der Ausstellung Brief und Siegel. Darin geht es nämlich um die Frage, was herrschaftliche und amtliche Dokumente überhaupt zum verbindlichen Rechtsmittel macht. Im Fall besagter Urkunde aus St. Emmeram waren es eben Siegel und Rekognitionszeichen, die für die Echtheit bürgen sollten.

Aus fast einem Jahrtausend und aus Staatsarchiven in ganz Bayern hat ein Kuratorenteam des Bayerischen Hauptstaatsarchivs in München 90 Beispiele ausgewählt, die zwar nicht immer Stoff für spannende historische Krimis liefern, die aber einen auch für Laien „lesbaren“ und hochinteressanten Zugang zu historischen Urkunden bieten. Obendrein wird ein essenzielles Kapitel der Rechtsgeschichte eingängig illustriert: vom Ohrwaschlziehen bis zur Prüfung biometrischer Daten und elektronischer Unterschriften. Letztere moderne Mittel, die Dokumente rechtssicher machen, sind allerdings nur als Ausblick angerissen, sie sind noch nicht archivwürdig.

Sicher verwahrt im Archiv

Die Institution Archiv ist der Hotspot fürs Thema schlechthin: In ihm wurden seit jeher sämtliche Urkunden aufbewahrt. Auch wenn es dort nur im übertragenen Sinn zwischen Pergamenten und Pappdeckeln glänzte: Sie waren gut gehütete Schatzkammern, wurden dort doch die Beweise gesammelt, die Herrschaft ebenso wie Besitz belegten. Um ganz sicherzugehen, dass ihm das kaiserlich verbriefte Recht, auf Wein Zoll erheben zu dürfen, nicht abhanden kommt, ließ der Würzburger Bischof anno 1468 das Dokument gar im Altar des heiligen Kilian im Würzburger Dom verstauen – obwohl das Hochstift ein offizielles Urkundenarchiv auf der Festung Marienberg unterhielt.

Schon allein das Recht, ein Archiv führen zu dürfen, war an Herrschaft gebunden. Freilich spielten Archive erst dann eine Rolle, als Rechtsgeschäfte zunehmend schriftlich fixiert wurden.

Im Frühmittelalter, als die Gesellschaft noch überwiegend schreib- und leseunkundig war, gingen vor allem private, kleinere Rechtsangelegenheiten gerne mündlich und symbolreich über die Bühne – geradezu wörtlich genommen: Quasi ein öffentliches Podium gehörte dazu, damit möglichst viele Anwesenden den Vorgang mit eigenen Augen und Ohren verfolgen konnten.

Die Öffentlichkeit vertraten obligatorisch Zeugen. Diese wurden auch an den Ohren gezogen – ein Ritual, das als rechtsverbindlich schon im Lex Baioarorum aus dem 8. Jahrhundert genannt und bis zum 12. Jahrhundert nachweisbar ist. Vielleicht wurde diese Erinnerungstechnik von den Römern übernommen, wo sie belegt ist – wie auch die Watschn, die Sklaven bei ihrer Freilassung erhielten? Ein symbolischer Backenstreich ist im Lehenswesen des Mittelalters überliefert und hat sich zum Beispiel in der katholischen Kirche lange gehalten: Wer vor 1973 gefirmt wurde, erhielt auch noch einen (angedeuteten) Backenstreich.

Die hohe Bedeutung dieses Rituals zur Absicherung des Rechtsentscheids wird dadurch deutlich, dass man gegen das Rechtsgeschäft nur vorgehen konnte, wenn der Zeuge nicht am Ohr gezogen wurde – unanfechtbar war hingegen der Inhalt der Zeugenaussage.

Eine andere symbolische Geste begleitete Rechtsverfahren: Oft mit erhobener Schwurhand wurde der Eid abgelegt – ein juristisches Beweismittel bis heute. Vereidigt wurde auf den Richterstab, der die Autorität des Richters symbolisierte. Illustrationen wie im Zentgrafenbuch Würzburgs von 1558 zeigen, dass dieser Stab schmucklos war. Ab der Neuzeit zerbrach der Richter bei einem Todesurteil den Stab über dem Kopf der Verurteilten und warf ihnen die beiden Teile vor die Füße – sicherheitshalber wurde der Stab vorher angesägt. Die Ausstellung zeigt ein solch zerbrochenes Requisit: Es ist der Gerichtsakte über Maria Theresia Asner beigelegt. Die Frau aus Dillishausen war 1776 hingerichtet worden. Ihr Vergehen: Ehebruch und zahlreiche Diebstähle.

Grundbesitz absichern

Wenn es um Rechtsverfahren in Sachen Grundbesitz ging, wurden diese schon früh schriftlich fixiert: als Charta, die in einem Rechtsakt prinzipiell vor Zeugen überreicht wurde, als Traditionsnotiz, in der eine Zeugenliste Rechtsverbindlichkeit garantierte, schließlich als gesiegelte und persönlich – auch nur mit drei Kreuzen – unterzeichnete Urkunde. Ein originelles Exponat der Ausstellung ist eine 378 Zentimeter lange Traditionsnotiz in Form eines Rotulus aus dem Kloster Polling: Aufgelistet sind 60 Besitzübertragungen aus der Zeit zwischen dem 12. und dem frühen 13. Jahrhundert.

Siegel stehen über allem

Siegel waren schon in der Antike gebräuchlich, in Bayern setzte sich dieses Beglaubigungsmittel ab dem 11. Jahrhundert allgemein durch. Die Rechtsfähigkeit war dem Siegel immanent: Siegeln durfte nur, wer überhaupt Recht setzen durfte: zunächst nur der Papst und die höchsten weltlichen Herrscher, mit Erstarken der bürgerlichen Gesellschaft auch der niedere Adel, Städte, Bürger und Korporationen. Bild und Text auf den Siegeln dokumentieren den Rang des Siegelnden: Initialen, ein thronender Fürst, Architekturen, Wappen oder Handwerkerzeichen.

Neben das Siegel traten oft grafische Zeichen, Unterschriften oder Monogramme – anders als heute hatte das Siegel jedoch lange Zeit rechtlich Vorrang. Und so war eine Schenkungsurkunde von Heinrich II. gültig, auch wenn der Kaiser in sein – von Schreibern gezeichnetes – Monogramm nicht den „Vollziehungsstrich“ gesetzt hatte und deshalb dem H ein Strich fehlt. Aber sein Wachssiegel war intakt.

In diesem Fall war das Siegel aufs Pergament gedrückt.Viele andere Urkunden haben angehängte Siegel. Bei der Kaiserurkunde Heinrichs VII. für Nürnberg von 1313 wäre das Aufdrücken auch schwerlich möglich gewesen: Ein Wachskern wurde mit Gold ummantelt – 37 Gramm bei einem Durchmesser von 5,5 Zentimetern wiegt das Prachtexemplar. Gezahlt hat es die Reichsstadt selbst – das war es den Bürgern auch wert, schließlich fixierte die Urkunde weitreichende Rechte.

Nicht um Besitzrechte, sondern um eine gegenseitige Verpflichtung ging es im Regensburger „Igel“, so benannt in der Archivsprache, weil an dem Schriftstück gar 234 Siegel angebracht sind – ursprünglich waren es sogar 423. So viele Bürger hatten nämlich anno 1342 den „Bundbrief“ des Bürgermeisters besiegelt und damit kundgetan, sich zur Wahrung des innerstädtischen Friedens, vor allem gegen die verbannten Unruhestifter aus dem Auer-Clan, zusammenzutun. In der Ausstellung sieht man die Siegel „enthüllt“ – im Magazin sind sie einzeln in säurefreien Siegeltäschchen verpackt.

Was in Amtsbüchern steht

Neben Urkunden hatten und haben Amtsbücher den Status eines Beweismittels. Was von Amts wegen notiert und verwahrt wird, ist uneingeschränkt rechtsgültig. Das galt schon für Lehenbücher und gilt noch heute fürs Grundbuch – selbst wenn das kein klassisches Buch mehr ist: Ab 1961 wurde es in Bayern als Loseblattsammlung geführt, inzwischen ist es ein elektronisches Datenkonvolut. Die notarielle Bestätigung von Grunderwerb wird noch immer gesiegelt – freilich nicht in Edelmetall oder Wachs, sondern als papierenes Prägesiegel. Dass man für eine solche hieb- und stichfeste Beurkundung zahlen muss, ist auch seit Jahrhunderten üblich.

Ob eines Tages UV-Aufdrucke, 3D-Gestaltungen, Hologramme oder Fingerprints auch beim Beurkunden vor – aus heutiger Sicht – so banaler Manipulation wie einst in St. Emmeram schützen? Egal ob früher oder heute: Wer sich an einem Siegel vergreift oder eine Urkunde fälscht, wird bestraft. Handabschlagen (Schwabenspiegel, 13. Jahrhundert) wie im Mittelalter muss man heute nicht mehr fürchten – aber ins Gefängnis kann man schon wandern. (Karin Dütsch)

Informaton: 14. September bis 20. November. Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Schönfeldstraße 5, 80539 München. So. bis Fr. 10-18 Uhr. Führung jeden Dienstag 17 Uhr. Eintritt frei. www.gda.bayern.de
Der Ausstellungskatalog „Brief und Siegel. Glaubwürdigkeit und Rechtskraft, gestern und heute“ (220 Seiten, 16 Euro) kann über den Buchhandel bezogen werden: ISBN 978-3-938831-93-9

Abbildungen:
Heinrich II. setzte zwar nicht den Vollziehungsstrich ins H seines Monogramms – die Urkunde war wegen des intakten Siegels dennoch rechtsgültig. Unten der Regensburger Igel.    (Fotos: STAB, BAYHSTA)

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