Kultur

Dramatischer Kampf gegen das sündige Treiben – die lüsterne Tigrana (Dorothea Spilger) will man loswerden. (Foto: Helmut Koch)

02.09.2011

Wilde Träume im Büro

Schmachtfetzen zwischen Romantik und Verismus: Mit Ironie setzt Andreas Wiedermann Puccinis "Edgar" in Szene

Keine Entzugserscheinungen für Münchens Opernfreunde: Wenn die Festspiele zu Ende sind, sorgen die Off-Truppen für Ersatz. Die „Opera incognita“ bespielt bei dieser spätsommerlichen Gelegenheit gerne ungewöhnliche Schauplätze mit seltenen Stücken: zuletzt das Müllersche Volksbad mit Mozarts kretischem Mittelmeer-Drama Idomeneo, jetzt die säkularisierte Allerheiligenhofkirche mit einer szenischen deutschen Erstaufführung.
Gerade mal zwei Hausnummern weit von der Staatsoper entfernt, die sich auf La bohème und nächstens Turandot verlässt, haben sich Regisseur Andreas Wiedermann und Dirigent Ernst Bartmann auf Giacomo Puccinis Edgar eingelassen: Bei der Uraufführung 1889 in Mailand ist die Oper durchgefallen, sie wurde mehrfach umgearbeitet, zuletzt immerhin in Londons Covent Garden oder in Turin wiederentdeckt – und jetzt im fabelhaft passenden Backsteininterieur der Hofkirche als Traumspiel inszeniert.
In der einfallsreich variierten Beleuchtung fängt alles an einem profanen Schreibtisch an. Davon steht im Opernführer zwar nichts, aber es ist ja auch Wiedermanns Idee zu einem Vorspiel als Ouverturenersatz. Dort sitzt ein braver, knuddeliger Büromensch samt Stempelkissen im Ordnermief. Statt Puccini-Musik erst mal Schreibmaschinengeklapper vom Band – bis die Femme fatale in Rot auftaucht, ihre Leitmotiv-Blumen auf dem Schreibtisch vergisst und Edgar ganz aus der Fassung zurücklässt. Dem entgleiten die Aktenberge, Puccinis Musik fängt an – und auch Edgars dreiaktiger Traum.
Und wie das im Traum so ist: Der nimmt keine Rücksicht auf Logik und Schickliches, mischt Krauses und Krudes, wilde Sexfantasien und nekrophile Lüste. Da lässt auch Wiedermann auf der von Udo Ebenbeck sparsam und geschickt eingerichteten Bühne durch die lüsterne Tigrana, die Edgar schnell flachlegt, mit „feuriger Wollust und brennenden Küssen“ das Regiment übernehmen.

Orgel zum Orgasmus

Dazu weht im Orchester lauschiges Morgenluftgesäusel: Orgel zum Orgasmus. Alle wollen diesem Carmen-Double an die Wäsche. Ihr Gegenpol, die brave, biedere Fidelia, hängt inzwischen die Bettwäsche zum Lüften auf. Wenn Tigrana ihren Ex-Lover Frank mit BH zwischen den Zähnen Gassi führt, nimmt man sich dann doch besser Zeit, in Puccinis Orchesterfarben hineinzuhören: Da gibt es in diesem hart umkämpften Opernopus Nummer 2 schon viel typisches Melos, große vokale Aufschwünge und Chorklang wie in Mascagnis etwa gleichzeitig entstandener Cavalleria rusticana. Wenn die Bauernehre das sündige Treiben aus dem Dorf werfen will, singt Tigrana: „Was euch das Gebet ist, ist mir das Lied“ – da darf man schon ein bisschen von Toscas „Vissi d’arte“ träumen.
Unmöglich aufzuzählen, was Wiedermann sich für die romantische Schwüle des Dichters der Textvorlage, Alfred de Musset, alles hat einfallen lassen, wenn der biedere Büroknuddel Edgar (Hui Jin) sein Vaterhaus anzündet und sich mit großartig durchschlagskräftigem Tenor für das Leben in Wollust entscheidet, dann Tannhäuser-mäßig Umschmiss macht und am Ende der eigenen Beerdigung zusieht.
Puccini hat das ariose Vielerlei immer wieder zu schmetternden Finali zusammengefasst, die Wiedermann ironisch aufbricht. Es gibt düstere Baritonflüche wie bei Rigoletto, fast reicht es bei „cielo sereno“ zu einem Tenor-Hit (nächstens gibt es eine CD mit José Cura als Edgar). Ernst Bartmann am Pult neben dem zwölfköpfigen Orchester aus dem Salzburger Mozarteum weiß, wie er diese Träume aus Sex und Sünde, Duell und Tod effektvoll zum Klingen bringt. Das schwärmt und schwelgt – noch aber ist es ein Zettelkasten, aus dem Puccini erst ab Manon Lescaut richtige Oper macht.
Unterstützt von der hilfreichen Akustik in der Kirchenapsis singen alle Solisten fulminant: allen voran das Hausmütterchen Fidelia. Dorothee Koch gewinnt am Ende der Puccini-Kolportage erstaunlich dramatisches Format, Dorothea Spilger entwickelt als Tigrana nicht nur Lust am Spiel mit der Lust, sie mischt das Arienpanorama auch mit dramatisch zugespitztem Sopran auf. Torsten Petsch ist das hingebungsvoll singende Bariton-Pendant zu Edgar, und Martin Summer tappert früh ergraut als Gualtiero über die Szene – alle sind authentisch puccinesk und sogar schon mit ein paar Vorahnungen von Korngolds Toter Stadt.
Das Publikum nahm’s mit Kopfschütteln über den stempelnden Cavaradossi-Vorgänger, am Ende aber mit überzeugtem Beifall: Anders als mit Ironie ist diesem Schmachtfetzen zwischen Romantik und Verismo offenbar nicht beizukommen. (Uwe Mitsching)

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