Kultur

Schlüpfrig, frech und provokant sind die Bücher von Robert Combas - hier ein Ausschnitt aus dem Buchcover "PLECFT", 1990 bei DTV erschienen. (Foto: VG Bild-Kunst, Bonn 2017)

08.09.2017

Wundersame Papiergesänge

Die Bayerische Staatsbibliothek zeigt eine spektakuläre Auswahl von Künstlerbüchern

Anrüchige Bücher: Nein, nicht jene mit dubiosen pornografischen oder politischen Inhalten, die im „Giftschrank“ der Bayerischen Staatsbibliothek (BSB) weggesperrt sind und die man nur bei Forschungsinteresse einsehen darf – sondern solche, die tatsächlich müffeln. Weil ein fettiges Fleischstück darin vergammelt. Käse oder Sauerkohl hat Dieter Roth auch schon zwischen die Seiten geklemmt. Gut, die gebratene Fischgräte, die Joseph Beuys an die Garn-„Angel“ gelegt hat, ist so klein, die riecht man bestimmt nicht mehr. Den Lesehunger regelrecht versaut einem aber Daniel Spoerri mit Zehn von Dieter Roth’s fünfhundert (anstatt tausend) fettflüchtigen Selbsterscheinungen: begleitet von zehn fettsüchtigen Rezepten: Roths Zeichnungen sind mit Fettklumpen verziert und ranzeln ordentlich vor sich hin. „Bah!“, schüttelt sich Béatrice Hernad, „ich habe erst dieser Tage mal wieder die Kassette aufgemacht, danach musste ich ganz schnell aus dem Magazin und raus an die frische Luft“, erzählt die zuständige Fachfrau in der BSB. Zweifelsohne ist das eines der spektakulären Exemplare in der rund 14.000 Nummern umfassenden Sammlung mit Künstlerbüchern in der BSB – aber Béatrice Hernad hat es trotzdem nicht in die Auswahl von gut 70 Exponaten für die neue Sonderausstellung übernommen. Vermutlich hätten die Vitrinen nicht genug Geruchsschutz geboten. Showcase heißt es in den Schatzkammern an der Münchner Ludwigstraße. Der plakative Hinweis auf die Ausstellungsmöblierung provoziert – und nicht nur der.

Nichts für Vitrinen

An sich haben Bücher und besonders Künstlerbücher in Vitrinen nichts zu suchen: Sie wollen benutzt, in die Hand genommen und durchblättert werden. Das unterscheidet sie von einem mittelalterlichen Codex, den man in der Regel des schönen Scheins und der Illustrationen wegen wie ein Bild bewundert, und der deshalb getrost als unantastbare Flachware museal zur Schau gestellt sein kann. Gerade bei Künstlerbüchern reicht es aber nicht aus, nur eine aufgeschlagene Seite anschauen zu dürfen: Da bekommt man allenfalls eine klitzekleine Ahnung von dem, was in ihnen steckt, vom subtilen Konzept, das der Künstler dort „verpackt“ hat und das Seite um Seite oder Stück um Stück enträtselt und begriffen sein will – im Sinne des Wortes. Dieter Roth, der in eine Ausgabe der Halbjahresschrift Poesie und Poetrie (1967– 1968) ein Stück „Originalhammel“ eingearbeitet hat, wählte für den Einband schmeichlerisch-weiche „Zickel-Embriohaut“, die so recht den Ekel des Geruchs wegen konterkariert – liest man zumindest im Begleitkatalog zur Ausstellung. Ganz eindringlich binden auch Asger Jorn und Guy-Ernest Debord bei ihrem gemeinsamen Künstlerbuch den Tastsinn ein: Wer Mémoires. Structures portantes d’Asger Jorn (1959) in Händen halten könnte, würde das dicke, raue, grobkörnige Sandpapier des Einbands spüren. Und wie frappierend muss sich dann das Innenleben des Buches anfühlen: dünne, leicht transparente Papierseiten. Ob die beim Blättern rascheln? Synästhetische Erlebnisse wollen viele Künstlerbuchmacher verschaffen, wenn sie die Möglichkeiten des Mediums Buch mit seiner Raum-Zeit-Folge als „Rahmen“ für ihre künstlerische Manifestation ergründen. Die „Handhabung“ ist bei anderen Ausdrucksformen wie Malerei und Skulptur nicht Bestandteil der Kunstrezeption – dort heißt es: Finger weg! An einem Früchtestillleben würde bestimmt niemand schnüffeln oder mit den Fingern gemalte schrumpelige Äpfel abtasten. Doch auch wenn die Künstler mit ihren Büchern das Kunstwerk als ein dem Museums- und Ausstellungsbetrieb konformes „Rühr-mich-nicht-an-Exponat“ vom Sockel stoßen: Einfach hat es der Rezipient mit ihnen nicht – die Lektüre macht oft ratlos, frustriert. Denn die Künstler zerfieseln gründlich die traditionelle Vorstellung von der Ikone des Bildungsbürgertums. Manche tun das regelrecht wütend: die Avantgarde im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, die Kämpfer gegen das bürgerliche Establishment der 1960er Jahre und die Punker der 70er und frühen 80er Jahre – Künstlerbücher sind ein idealer „Lesestoff“ über gesellschaftliche Befindlichkeiten. Da wird die Macht des geschriebenen und gedruckten Wortes gebrochen, Texte werden zerfleddert, neu und scheinbar willkürlich montiert, mit Illustrationen und Fotografien collagiert – ohne Rücksicht auf die eingeübte lineare Lesart und das gewohnte Schriftbild. Typografische Normen werden gesprengt – man sieht in der Ausstellung Beispiele bis hin zum zeitgenössischen Graffiti.

Rätselhafte Metagraphie

Am radikalsten entfalteten sich die Experimentierlust und der Erfindungsgeist bei den „Lettristen“. Einer von ihnen, Gabriel Pomerand, hat in Saint ghetto des prêts. Grimoire (1951) ein „Schriftbild“ arrangiert, in dem Buchstaben aus verschiedenen Alphabeten und in unterschiedlichen Typen neben Zahlen, Piktogrammen, Musiknoten und chemischen Formeln stehen: moderne Hieroglyphen. Aber einem pragmatischen Schlüssel zur Entzifferung, vergleichbar dem Stein von Rosette, entzieht sich diese extrem persönliche „Metagraphie“. Auch dazu passt das ambivalente Bild vom Glaskasten, in den man lugen darf, aber nur einen rätselhaften Ausschnitt serviert bekommt, und was man sieht, ist nicht richtig „fassbar“: Als wär der Künstler selbst so eine Art Showcase und gewähre einen Moment lang den Blick auf sein kreatives Gedankengewitter. So zum Beispiel der Isländer Erró: Nicht aus Glas, sondern aus durchsichtigem Polyesterharz hat er sein Künstlerbuch gestaltet. Er hat lauter kleine Gegenstände, Texte und Reproduktionen eigener Bilder in Würfel eingegossen. Für die zwölf Kuben gibt es ein Gestell – man kann die Würfel beliebig herausnehmen, arrangieren und „lesen“. Da fährt ein Schwein Motorrad, ein anderes flätzt faul auf einem Hausdach, ein Eisbär schleppt einen Laster und ein Känguru guckt neugierig aus einem Barockrahmen: Lauter Rohstoffe für Geschichten, die man sich spielerisch selbst bauen muss. Ähnlich „gelesen“ werden will Fluxus 1. George Maciunas hat in einen Holzkasten lauter Umschläge mit Beiträgen von Fluxus-Künstlern gegeben: Eventkarten, Partituren, Origamifigürchen, Tonbandstreifen, Texte, Fotografien... Das kommt einem fast so vor wie die „Zeitkapsel“ einer Grundsteinlegung. Das sind nur zwei aus einer Vielzahl von Möglichkeiten, die zeigen, dass ein Buch nicht unbedingt aus der Abfolge von Einzelseiten zwischen Einbanddeckeln bestehen muss. John Baldessari gestaltet es wie einen Tischkalender mit Spiralbindung (Brutus killed Caesar, 1976), Poésie de mots inconnus (1949) von Iliazd besteht aus lauter Papiermappen, in denen zweifach gefaltete Blätter eingelegt sind. Leporellos sind beliebt – das von Stephen Dupont bringt es auf 42 Meter (Panorama, 2007). Auch Plattencover sind eine Form des Buches: Die Ausstellung zeigt jenes der Band Big Brother and the Holding Company, zu der auch Janis Joplin zeitweise gehörte: Der Meister des Underground Comics und Fritz-the-Cat-Erfinder Robert Crumb hat es als Comic gestaltet – glücklich kann sich schätzen, wer so ein Original noch daheim im Plattenregal entdeckt. Dass sich die Bayerische Staatsbibliothek das Cover leisten konnte, hat sie der Carl Friedrich von Siemens Stiftung zu verdanken – wie mehrere andere Ankäufe für ihren Künstlerbuchbestand. Zwischen zwei und gar 500.000 Euro könne der Preis für ein Künstlerbuch variieren, sagt Béatrice Hernad. Ein festes Ankaufsbudget gibt es nicht dafür, Künstlerbücher laufen in der Abteilung „Handschriften“ mit. Wohl des finanziellen Spielraums wegen bleiben Unikate meist außen vor, man hält sich an Auflagenwerke. Freilich sind die wenigsten Künstlerbücher Massenwerke, oft erscheint nur eine Handvoll Exemplare von ihnen. Auf jeden Fall mangelt es der Kuratorin Béatrice Hernad keineswegs an Highlights für Showcase – das Namedropping, das man zur Ausstellung gut sichtbar auf einem Transparent an der Außentreppe in der Ludwigstraße platzieren wird, lockt mit dem Who is who? der Künstler im 20. Jahrhundert und der zeitgenössischen Szene: Pablo Picasso, Joan Miró, Jean Dubuffet, Andy Warhol, Joseph Beuys, William Burroughs, Ed Ruscha, Alexander Rodtschenko, Man Ray, Max Ernst, Anselm Kiefer, Herman de Vries, Robert Crumb, Emil Siemeister, Katharina Gaenssler – um nur einige herauszuziehen.

Schwer recherchierbar

Und Werke all dieser Künstlerpromis in einer Bibliothek? „Primär sind es ja Bücher, und eine Bibliothek ist deshalb quasi ihr originärer Bestimmungsort“ – Béatrice Hernad unterscheidet obendrein: „Als Bestandteil einer Museumssammlung würde man sie wohl nur alle paar Jahre bei Ausstellungen sehen können. Bei uns dagegen sind sie immer präsent, wenn es auch Einschränkungen in der Benutzung gibt.“ Ausleihen geht gar nicht – man kann sie sich aber mit Antrag im Handschriftenlesesaal vorlegen lassen. Der Kreis der Nachfragenden ist allerdings überschaubar, es sind Insider: Kunsthistoriker, Galeristen, Künstler. „Das Problem ist“, erklärt die Expertin, „dass die Künstlerbücher nicht eigens als Sammlungsgebiet recherchierbar sind. Oft erfährt man von ihnen nur über die Namensrecherche.“ Ein bisschen mag man deshalb das Motto Showcase auch als subtilen Fingerzeig auf den gläsernen Schneewittchensarg interpretieren: Die Künstlerbücher schlummern und warten wie Scheintote auf ihre Erweckung. Aber nur der bedingten, denn den normalen Bibliotheksalltag würden sie wegen ihrer oft geradezu hinfälligen Materialität gar nicht überleben. Vielleicht sind es gerade die Abgesänge auf das gedruckte Buch, die in jüngerer Zeit der Gattung Künstlerbuch ihre (neue) Wertschätzung bescheren. Immer häufiger sind sie Ausstellungsthema: 2017 in New York, Paris, Madrid, Basel, Wolfenbüttel – aktuell auch in Fürstenfeldbruck, wo das Münchner Zentralinstitut für Kunstgeschichte grafische Künstlerbücher (Graphzines, bis 24. September) zeigt. Ein Beweis dafür ist, dass auch die junge Künstlergeneration das Künstlerbuch als Ausdrucksmöglichkeit pflegt. Eine spannende Arbeit fertigte Emil Siemeister eigens für die Sonderausstellung in der Bayerischen Staatsbibliothek an, sie steht wunderschön poetisch für die disparate Existenz der Gattung Künstlerbuch: Wenn Licht in dem extra dafür eingerichteten Kabinett angeht, laden sich die Buchseiten mit den Bildern aus Nachleuchtfarbe quasi auf, bei abgeschaltetem Licht leuchten sie, verblassen langsam wieder und verschwinden in der Dunkelheit, bis Licht sie erneut zu Leben erweckt. Obendrein besteht das Buch aus Schichtungen: Der „zwingende Vorgang des Blätterns ist eine Bewegung im realen Raum, und er konfiguriert das Einzelbild in immer neue Zusammenhänge, sodass das technisch-konstruktivistische Konzept überführt zu einem Stimmungsbild extraordinärer Befindlichkeit des Betrachters, kurz Theatrum sapientiae genannt“, wird Siemeister im Ausstellungskatalog zitiert.

Passt zur Sammlertradition

Inhaltlich bezieht sich Emil Siemeister auf eine der kostbarsten und aufwendigsten Musikhandschriften aus der Bayerischen Staatsbibliothek: auf Die Sieben Bußpsalmen (1565 – 1570) in der Vertonung von Orlando di Lasso und illuminiert von Hans Mielich – auch eine Art Künstlerbuch. Siemeisters Unikat für die BSB mag man auch als (ermahnenden) Verweis auf die jahrhundertealte Sammeltradition der Bayerischen Staatsbibliothek beziehungsweise ihrer Vorgängerinstitutionen lesen. (Karin Dütsch) Information: Showcase, 20. September bis 7. Januar 2018. Bayerische Staatsbibliothek, Ludwigstraße 16, 80539 München. So. bis Fr. 10-18 Uhr, Feiertags geschlossen. Abbildungen:
Der „Befreiung des in Ketten liegenden Wortes“ galt das Buch „Troe“ (1913) von Kasimir Malewitsch, Velimir Chlebnikov, Alexej Krutschonych und Elena Guro.   (Foto: BSB)

Eine Doppelseite aus Jean Dubuffets „La Métromanie“ (1950): Es ist sein umfangreichstes lithografisches Buch mit kalligrafischem Text. Es erschien in 150 Exemplaren in verschiedenen Papierqualitäten.   (Foto: VG Bild-Kunst, Bonn 2017)

Ein Buch muss nicht unbedingt aus einer Abfolge von Seiten zwischen zwei Einbanddeckeln bestehen: Hier „Infra noir“ von Erró.    (Foto: VG Bild-Kunst, Bonn 2017)

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