Kultur

Tanzszene mit Janne Boere. (Foto: Marie-Laure Briane)

03.06.2022

Zerbrochene Akrobatik

Christel Johannessens Ballett „Der Sturm“ am Münchner Gärtnerplatztheater als Geschichte über den Naturschutz

„Tanz kann kämpfen“: Der Schlachtruf des Tanztheaterberserkers Johann Kresnik (1939 bis 2019) bleibt in Erinnerung. Imperialismus, das Naziregime, politische Mitläufer und Mörder: Ihnen galten einige seiner thematischen Attacken. Ein Macbeth (1988) findet sich auch in Kresniks Repertoire. Glücklicherweise hält Shakespeare einiges aus. Soeben wurde sein Alterswerk Der Sturm (1611) in einer Uraufführung der Norwegerin Ina Christel Johannessen (Regie und Choreografie) fürs Tanzensemble des Münchner Gärtnerplatztheaters umgedeutet zu einer Naturschutzstory. Das junge Publikum war hell auf begeistert.

Johannessen nutzt im Grunde nur die Ausgangsposition von Shakespeares The Tempest: Durch den von Inselmagier Prospero planvoll ausgelösten Sturm erleidet die königliche Familie aus Neapel samt Gefolge Schiffbruch. Es ist eine erzieherische, letztlich versöhnliche Lektion des einst vertriebenen Herzogs von Mailand. Erziehen und mahnen will auch Johannessen. Schon vorausgehende Arbeiten hat sie ganz als engagierte Umweltaktivistin entworfen.

Untheatralisch leicht

Es beginnt mit dunklen Wolken, aufgepeitschtem Meer (Video: Meike Ebert/Raphael Kurig) und gestrandeten Menschen in einem von glühend roter Sonne ausgetrockneten Ödland (Bühne: Kristin Torp). In Kartons schleppen die Schiffbrüchigen gerettete Habseligkeiten herbei, was die allzu bekannten Fernsehbilder von Naturkatastrophen wachruft. Schutz bietet hier ein hoher, schlichter Pfahlbau, einst vielleicht ein Anlegesteg für Boote. Dank Drehbühne wandert das luftige Gehäuse im Raum, lässt so den 20 Tänzer*innen und den überraschend gut in die Inszenierung integrierten Musizierenden immer wieder eine andere Aktionsfläche. Das bewirkt eine geradezu untheatrale, eine kreative Leichtigkeit.

Die live gespielten Musikstücke von Chopin bis Schnittke und Gubaidulina, dazu Luc Ferraris Tonbandaufnahmen mit Alltagsgeräuschen, die Rhythmen der beiden Trommler und der Akkordeonchampion am Bühnenrand – all das erfüllt den Raum durchgehend mit Klang und Rhythmus, mit Aufreizung und Beruhigung.

In der Struktur hatte Johannessen sehr klare Vorstellungen. Choreografisch schwächelt der Abend. Schon das Vorspiel auf dem überdeckten Orchestergraben ist zu lang, im turnerisch-gelenkigen Vokabular zu beliebig. Christel Johannessen schließt grundsätzlich das Ensemble mit in den Entstehungsprozess ein. Und so ist nicht wirklich auszumachen, ob und wie viel an Schrittmaterial die Tanzenden zugeliefert haben. Und wenn, wäre dies legitim, also kein Kritikpunkt.

Auffällig allerdings – und eben nicht durchgehend positiv – ist das überbordende Bewegungsgeschehen zwischen gleitend-rollenden Bodenfiguren und stupender gelenkauflösender Akrobatik. Immer wieder wirbelt das Tanzensemble über die Bühne: in Zweier-Formationen, in aufgeregtem Massendurcheinander, im erschöpft wankenden Pulk, in kantigen, sich selbst aushöhlenden Soli. Nur schwer lassen sich da Figuren in der Nähe von Shakespeares Sturm ausmachen. David Valencia, einmal eingehüllt in einen seidenen Umhang, scheint für ein paar Minuten Prospero zu sein.
Aber auf Textbezüge kommt es Johannessen nicht an. Letztlich sind alle Figuren gedacht als Ausdruck von Hilflosigkeit, Verzweiflung oder auch von Aufbegehren.

Aussage kontra Form

Insgesamt verbleibt die choreografische Bewegung in vagen Andeutungen, in zerbrochenen Formen und Linien. Das darf ja sein, ob in der Nähe von Impressionismus oder Expressionismus. Aber sie muss uns anfassen, muss uns unter die Haut gehen. Es scheint, dass die extrem entwickelte Körperbeweglichkeit, bisher ja bewundert, nun am Abnutzungseffekt leidet, dass sie nichts mehr mit Kunst zu tun hat. Bleibt nur die Erkenntnis: Bei Johannessen wie schon bei Kresnik ist das gesellschaftlich-politische Anliegen wichtiger als die Formgebung. (Katrin Stegmeier)

 

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