Landtag

In Hanau tragen bei einem muslimischen Trauergebet den mit einer türkischen Fahne bedeckten Sarg eines Opfers des rassistischen Anschlags. (Foto: Frank Rumpenhorst/dpa)

28.02.2020

"Es wäre ein Fehler, von der Tat eines Irren zu sprechen"

Cemal Bozoglu, Sprecher für Strategien gegen Rechtsextremismus der Grünen-Landtagsfraktion, über den Anschlag von Hanau und die Folgen

BSZ: Herr Bozoglu, welche Erschütterungen hat der rassistische Mordanschlag von Hanau in Bayern hinterlassen?
Cemal Bozoglu: Dass unschuldige Menschen allein aufgrund ihrer Hautfarbe, ihres Glaubens oder ihres ethnischen Hintergrunds umgebracht werden, schmerzt natürlich in Bayern genauso wie im hessischen Hanau. Den gleichen Schmerz habe ich gefühlt bei Norwegen, Neuseeland oder Frankreich. Hanau ist uns sehr nah. Es hätten auch meine Kinder sein können, die an einem Abend noch unterwegs sind, sich mit ihren Freunden treffen und zufällig zur Zielscheibe eines Rechtsterroristen und seiner kranken Vorstellungen werden.

BSZ: Neun Personen, die erschossen wurden, weil sie in einer Shisha-Bar oder in deren Nähe waren und „ausländisch“ ausgesehen haben – in den Shisha-Bars und an ähnlichen Orten geht die Angst um. Was macht das mit einer freien Gesellschaft?
Bozoglu: Wir erleben das bekanntlich nicht zum ersten Mal. In Solingen, Mölln, Hoyerswerda oder Rostock-Lichtenhagen gab es in den Neunzigern auch schon rassistische Anschläge. Menschen mussten sterben. Diese Anschläge haben erst aufgehört, als Millionen von Menschen dagegen auf die Straße gegangen sind. Solche Anschläge gelten uns allen, unserer Demokratie und unserer Vielfalt. Sie zielen ab auf eine gesellschaftliche Gruppe, die als schwach vermutet und als nicht zugehörig erachtet wird. Die Gesellschaft soll gespalten werden. Daher sind gesellschaftliche Solidarität und Zusammenhalt nun oberstes Gebot.

BSZ: Befürchten Sie, dass der Mörder von Hanau als psychisch Kranker, als „Irrer“, eingestuft wird und damit seine rassistische Triebfeder in den Hintergrund rückt?
Bozoglu: Gerade die Vertreter der AfD haben exakt in diesem Tenor argumentiert. Ein Irrer, dessen Tat bedauert wird und dann aber auch schleunigst abgehakt werden sollte. Das ist aber ein falscher Ansatz. Auch beim OEZ-Anschlag haben wir ähnliche Diskussionsmuster erlebt. Erst spät war dann unumstritten, dass es sich um einen rassistischen Anschlag gehandelt hat.

"Ich sehe das Problem aktuell nicht bei den Sicherheitskräften, sondern bei den politischen Entscheidungsträgern"

BSZ: Es gibt viele Parallelen zwischen dem Anschlag jetzt in Hanau und dem in München im Juli 2016. Bei letzterem hat die bayerische Polizei drei Jahre lang gebraucht, bis sie sich zur Einstufung „politisch motivierte Gewaltkriminalität – rechts“ durchringen konnte. Nach Hanau sprach Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) jetzt von einem rassistisch motivierten Terroranschlag – ein Fortschritt?
Bozoglu: Nach den Morden des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) mussten unsere Sicherheitsapparate sehr kritisch hinterfragt werden. Über Jahre hinweg konnte eine Gruppe von Rechtsterroristen mitten unter uns ungehindert morden. Zu der versprochenen lückenlosen Aufklärung kam es nicht. Wäre der NSU vollständig aufgeklärt und wären alle Lehren daraus richtig gezogen worden, so würde Walter Lübcke vielleicht noch leben.

BSZ:
Auf einer der Demos nach Ha-nau wurde gefordert: „Razzien bei Nazis, nicht in Shisha-Bars!“ Kann man den nötigen Richtungswechsel der praktischen Polizeiarbeit so auf den Punkt bringen?
Bozoglu: Ich sehe das Problem aktuell nicht bei den Sicherheitskräften, sondern bei den politischen Entscheidungsträgern, die etwa die Gruppe „Combat 18“ deutlich zu spät verboten haben. Wenn wir uns vor Augen führen, dass wir allein bei der Bewertung des Falls in Chemnitz derart unterschiedliche Einschätzungen zwischen dem damaligen Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen und der Bundeskanzlerin Angela Merkel hatten, die immerhin der gleichen Partei angehören, zeigt das ein massives Problem.

BSZ: Nach Hanau ist viel von der Verantwortung der AfD die Rede. Doch es gibt ja auch CSU-Politiker, die in Bierzeltreden dem Publikum suggerieren, „Ausländer“ stellten eine Gefahr dar. Sind letztere womöglich die gefährlicheren, weil sie im Gegensatz zu AfD-Politikern den Nimbus des Anständigen, des Integren, der unzweifelhaften Demokraten haben?
Bozoglu: Rassismus ist leider ein weitverbreitetes Übel und ein gesamtgesellschaftliches Problem. Jahrzehntelang haben sich in der CSU solche Ressentiments halten können. Zuletzt wurde (im schwäbischen Wallerstein, Anm. d. Red.) einem Menschen ein politisches Amt allein deshalb verwehrt, weil er einen muslimischen Religionshintergrund hat. Doch jetzt hat die CSU die Chance, in der Abrechnung mit der AfD sich auch von möglichen eigenen Rassismen zu befreien.

BSZ: Fünf der zehn Opfer der bundesweiten Mordserie des NSU wurden in Nürnberg und München erschossen. Glauben Sie, dass der NSU als Nazi-Terrorbande im kollektiven Bewusstsein der Bayern jemals angekommen ist? Oder denkt der Durchschnittsbayer bei NSU nach wie vor an Oldtimer?
Bozoglu: Letzteres ist zu befürchten. Das Umfeld des NSU, also diejenigen, die die Taten erst ermöglicht haben, sind nicht vollumfänglich belangt worden. Mit einer vollständigen Aufklärung im Fall des NSU hätten wir dabei den Grundstein für deutlich weniger Anschläge in Zukunft legen können. Der NSU ist immer noch eine offene Wunde in der Geschichte der Bundesrepublik.
(Interview: Florian Sendtner)

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