Leben in Bayern

Abiturientin Luise Aumüller vor dem Plakat zum Schicksal von Alfred Oppenheimer. (Foto: Herbert Mackert/dpa)

06.11.2018

13 Leben in 13 Führerscheinen

Lichtenfelser Abiturienten haben das Schicksal 13 jüdischer Bürger rekonstruiert - anhand beschlagnahmter Führerscheine. Zur Ausstellung wollen auch Nachfahren der NS-Opfer kommen

Fast vom ersten bis zum letzten Kriegstag ist Leo Wolf an der Westfront des Ersten Weltkriegs im Einsatz, wird zum Unteroffizier befördert und nach einer Verwundung 1916 Frontsanitäter. Dafür erhält er das Eiserne Kreuz zweiter Klasse und den seltenen bayerischen Militär-Verdienstorden mit Krone und Schwertern dritter Klasse. Am 25. April 1942, als die Juden in Altenkunstadt (Landkreis Lichtenfels) deportiert werden, führt er die Kolonne der Todgeweihten an, die Orden von damals an der Brust. Vermutlich am 6. Juni werden Leo Wolf, seine Frau Helene und Tochter Margot in den Gaskammern des Vernichtungslagers Sobibor ermordet.

Das Verbrechen an dem Kaufmann Leo Wolf und seiner Familie ist eines von 13 Schicksalen jüdischer Bürger aus dem oberfränkischen Lichtenfels, die Schüler des Meranier-Gymnasiums anhand von Führerscheinen recherchiert und dokumentiert haben. Ein Jahr lang rekonstruierten die Abiturienten in einem Praxis-Seminar die Lebensläufe und zeichneten den Überlebenskampf der Menschen nach, die von den Nationalsozialisten erst schikaniert, dann enteignet und schließlich zwangsverschleppt wurden.

Die Führerscheine kamen nach Angaben von Landrat Christian Meißner (CSU) bei der jetzt in der Behörde anstehenden Digitalisierung wieder zum Vorschein. "Es ist mir eiskalt den Rücken runtergelaufen", sagt Meißner über den Aktenfund in seiner Behörde. Die Landratsämter sind die Nachfolgebehörden der nationalsozialistischen Bezirksämter, die Juden damals die Führerscheine entzogen.

Fünf Menschen wurden ermordet, acht gelang die Flucht

"Zur Wahrheit gehört, dass die Behörde in das NS-Regime verstrickt war", betont Meißner und mahnt: "Je länger Verbrechen zurückliegen, desto höher ist die Gefahr, dass sie nur noch ein Fall fürs Geschichtsbuch sind." Dem habe er vorbeugen wollen und die Fahrerlaubnisse an den Seminarleiter Manfred Brösamle-Lambrecht übergeben - der einst Meißners Geschichtslehrer war.

Fünf Menschen wurden den Recherchen zufolge ermordet, acht gelang noch rechtzeitig die Flucht in die USA oder nach Südamerika. "Das Land, für das Leo Wolf gekämpft und geblutet hat, hatte ihn verraten und umgebracht", schreiben die Gymnasiasten Sophie Rauh, Markus Betz und Dennis Rosig in ihrem Beitrag zu der 100-seitigen Dokumentation zur Ausstellung mit dem Titel "13 Führerscheine. Dreizehn jüdische Schicksale". Diese ist vom 9. November an in der ehemaligen Synagoge der Stadt zu sehen. Neun der von den Schülern ermittelten Nachfahren haben ihr Kommen zur Eröffnung zugesagt, wie Brösamle-Lambrecht sagt.

Schnell kann aus einem Rechtsstaat ein Unrechtsstaat werden

Die Einziehung zunächst der Führerscheine und dann der Autos und Motorräder von Juden ging auf einen Erlass des SS-Reichsführers und Chefs der Polizei, Heinrich Himmler, vom 3. Dezember 1938 zurück. "Dabei war auch viel Neid im Spiel, denn einen Führerschein zu besitzen und mehr noch ein Auto, das war in den 1930er Jahren keine Selbstverständlichkeit", betont die Schülerin Luise Aumüller. Ein Lichtenfelser Mitglied des nationalsozialistischen Kraftfahrkorps sagte dazu laut Überlieferung: "Diese kraftfahrende jüdische Clique hat nun für immer und ewig auch das letzte Steuer aus der Hand geben müssen, das sie bisher noch in Händen halten konnte."

Für Seminarleiter Brösamle-Lambrecht haben die Arbeit seiner Schüler und die Ausstellung vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen "eine Dimension, die wir lieber nicht hätten". Angesichts der Debatte um den Umgang mit Geflüchteten und verharmlosender Aussagen zum Nationalsozialismus, etwa die von AfD-Chef Alexander Gauland, Hitler und die Nazis seien ein "Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte", sei es wichtig, bei jungen Menschen Geschichtsbewusstsein zu schärfen. Landrat Meißner ergänzt: "Wir haben allen Anlass dazu, nachzudenken, dass Demokratie nicht selbstverständlich ist. Das Schicksal der ehemaligen jüdischen Mitbürger zeigt, wie schnell aus einem Rechtsstaat ein Unrechtsstaat werden konnte."

Francesa Schütz hat das Leben von Leo Banemann nachverfolgt, der in Burgkunstadt einen Handel für Metzgereibedarf führte und mit seiner Frau Martha und Tochter Edith im April 1939 gerade noch mit einem der letzten Schiffe der Hamburg-Amerika-Linie nach Kuba und von dort zu seiner Schwester nach Baltimore in die USA fliehen konnte. Sie sagt: "Mir kommen die Tränen, wenn ich höre, welche Begriffe manche Jugendliche gedankenlos verwenden und nicht wissen, wohin Ausgrenzung und Rassismus führen."
(Herbert Mackert, dpa)

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