Leben in Bayern

In Arzberg gibt es jede Menge verlassene „Problemhäuser“ – „wir können die ja nicht alle abreißen“, sagt der Bürgermeister. (Foto: Stumberger)

26.06.2020

Eine Stadt stemmt sich gegen ihren Niedergang

Die Kleinstadt Arzberg in Bayerns höchstem Norden kämpft gegen den Bevölkerungsschwund – ob es gelingt, ist noch ungewiss

Nein, an diesem Tag wehen keine Nebel durch die menschenleeren Straßen von Arzberg, in denen die Häuserruinen ausgeschlagenen Zähnen gleichen. So hatte ein Reporter vor sechs Jahren die oberfränkische Stadt nahe Wunsiedel beschrieben, die seit der Pleite der örtlichen Porzellanfabrik einen beispiellosen Niedergang erlebt. Arzberg war die Stadt in Bayern mit den höchsten Einwohnerverlusten. Lebten dort 1990 noch 7000 Menschen, werden es 2020 Prognosen zufolge nur noch 4716 sein. Doch die Stadt hat sich ein wenig gefangen. „Wir haben seit einigen Jahren eine Bevölkerung von um die 5000 Personen“, sagt Bürgermeister Stefan Göcking (SPD). Und: „Wir sind gerade dabei, uns neu zu erfinden.“

Arzberg, das ist eine Kleinstadt ganz im Norden von Bayern nahe der tschechischen Grenze, zwischen Wunsiedel und Waldsassen gelegen. Die Stadt liegt in einem Talkessel, früher gab es dort Bergbau. Bis in die 1990er-Jahre hinein arbeiteten fast alle Arzberger*innen in der örtlichen Porzellanfabrik. Als das Werk im Jahr 2000 nach einer Produktionsverlagerung nach Schirnding dichtgemacht wurde, traf das die Stadt wie ein Tiefschlag. Die weggebrochenen Arbeitsplätze konnten nicht ersetzt werden. Und es kam noch schlimmer: 2003 wurde auch das Kohlekraftwerk Arzberg stillgelegt.

Infolge ging es mit der Stadt bergab, die Menschen zogen fort. Das Krankenhaus wurde geschlossen. Für die Mittelschule gab es nicht mehr genügend Schüler*innen. Und immer mehr Läden und Häuser standen leer. Eine Entwicklung, die die ganze Region betrifft, wenn auch nicht so gravierend wie Arzberg. Bis auf Bamberg wird für alle Landkreise in Oberfranken ein Bevölkerungsrückgang prognostiziert. Es ist das andere Bayern: ärmer, düsterer und einfacher als der Süden. Nicht erst seit dem Wegzug der Porzellanindustrie. Zuvor wurden schon Arbeitsplätze gestrichen – in den Schuh- und Textilfabriken der Region.

„Die Stimmung war nicht gut“, sagt Bürgermeister Göcking. „Das waren harte Jahre.“ Er sitzt seit 16 Jahren für die SPD im Rathaus, Arzberg hat eine lange Arbeitertradition. Die Depression – „das war eine Art Schockstarre“ – hat einige Zeit angedauert, dann aber habe die Stadt beschlossen, sich gegen den Niedergang zu stemmen. Freilich keine leichte Aufgabe, „wir können nicht eine alte Industriestadt von heute auf morgen in ein Touristenziel verwandeln“, sagt Göcking. Aber es ist schon einiges geschehen, nicht zuletzt dank der Fördergelder von Bund und Land.

Ein großes Problem in der Stadt: Die leer stehenden und dem Verfall preisgegebenen Häuser. Der Bürgermeister erzählt bei einem Spaziergang durch trostlose Straßen: „Manchmal wird das Erbe ausgeschlagen, dann fallen die Häuser an die Stadt.“ Einige der Ruinen hat Göcking abreißen lassen, an deren Stelle befinden sich jetzt kleine grüne Biotope, die auch als Parkplatz dienen. An einem Hang wurden anstelle alter Bruchbuden Terrassengärten angelegt, im September vergangenen Jahres haben die Bürger*innen dort ein Weinfest gefeiert. Mit dem Bergbräu hat die Stadt seit 2006 sogar ein Kulturzentrum. Das dazugehörige Wirtshaus hat derzeit allerdings keinen Pächter. „Die Corona-Krise macht uns schon zu schaffen“, sagt Göcking.

Rund 30 leer stehende Häuser weist der Sanierungsplan von 2018 für die Arzberger Innenstadt nach. Dort ist zu lesen: „Die Einwohnerverluste der vergangenen zwei Dekaden haben insbesondere im Ortszentrum von Arzberg zu Leerständen in Wohnungen geführt. Darüber hinaus führen die Entwicklungen im Einzelhandel mit einem zunehmenden Wachstum des Onlinehandels sowie dem Rückgang von inhabergeführten, kleinflächigen Geschäften zu einer Vielzahl von Leerständen in ehemaligen Ladenlokalen und Erdgeschosszonen.“ Aber, sagt der Bürgermeister, „wir können nicht einfach den ganzen Leerstand abreißen, das verträgt eine Stadt nicht“.

Verfallene Bauten neben neu geschaffenen Biotopen

Oben auf dem Gelände der ehemaligen Porzellanfabrik gähnen die leeren Fensterhöhlen in dem alten Fabrikgebäude. Für den sanierten Gebäudeteil werden neue Firmen gesucht. Ein Arbeitslosenproblem gebe es in der Stadt eigentlich nicht, sagt Göcking. Schlicht weil alle Einwohner im arbeitsfähigen Alter halt weggezogen seien. Arbeitsplätze bieten heute nur noch eine Wurstfabrik und eine holzverarbeitende Firma. Auch Porzellan wird in Arzberg noch verkauft, im Outlet-Center, die Ware selbst aber wird in Selb hergestellt.

Inzwischen gibt es wieder Zuzug in der Stadt. Weil vielen Menschen das Leben in Städten wie München oder Berlin zu teuer geworden ist. Oft sind es Senior*innen, die kommen. Aber nicht nur. Im Stadtcafé an der Rathausstraße warten Konditor Peter Willer und seine Frau Annelie auf Gäste, die seit der Corona-Krise immer weniger geworden sind. Das Ehepaar hat früher in München gewohnt, dann bei Ingolstadt. Vor sieben Jahren haben sie das Haus an der Rathausstraße gekauft und das Café eröffnet. In einem Eckschrank ist heimisches Porzellan ausgestellt, an einer Wand hängen Plakate zu dem Berliner Komponisten Paul Lincke. Konditormeister Peter Willer redet gerne mit seinen Gästen und weiß, „dass um die Ecke ein Haus an Norddeutsche verkauft wurde“, die Immobilienpreise seien eben günstig. Auch die Mieten. Neben dem Rathaus ist ein Neubau geplant, mit gehobener Ausstattung. Mietpreis pro Quadratmeter: sieben Euro. Davon können Mieter*innen in München nur träumen. Bei den Altbauten liege der Mietpreis sogar nur bei zwei bis drei Euro pro Quadratmeter, sagt der Bürgermeister.

Allerdings: Allein günstige Mieten machen eine Stadt noch nicht attraktiv. So gibt es in Arzberg gerade einmal zwei Hausärzte, für weitergehende medizinische Behandlung muss man nach Marktredwitz oder gar Weiden fahren. Und ob der Zuzug von vor allem älteren Menschen ausreicht, um die weitere Abnahme der Bevölkerung zu verhindern, ist fraglich. Hoffnung aber gibt es in Arzberg: Es kommen auch wieder mehr Kinder auf die Welt. Jetzt soll gar ein neuer Kindergarten gebaut werden.

So schwankt die Stadt zwischen der Altlast der industriellen Vergangenheit und dem Versuch eines Neuanfangs. Sanierungsbedürftige Häuser stehen neben den Ladestationen für Elektroautos, alte Industriebauten neben neu geschaffenen Biotopen. Das Gefälle zum bayerischen Süden ist noch deutlich greifbar. Und doch ist Arzberg eine Stadt, die sich – auch dank Fördergelder – auf den Weg in eine neue Zukunft macht.
(Rudolf Stumberger)

Foto (Stumberger): Bürgermeister Stefan Göcking: „Wir sind dabei, uns neu zu erfinden.“

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