Leben in Bayern

Dino Capovilla ist selbst hochgradig sehbehindert. (Foto: Pat Christ)

23.10.2020

Für ein bisschen mehr Star Trek in der Welt

Kämpfer für Inklusion: Dino Capovilla baut an der Uni Würzburg den bayernweit ersten Lehrstuhl für Pädagogik bei Sehbeeinträchtigung auf

Als Sohn italienischer Gastarbeiter kam er 1979 in Schwaben zur Welt und wuchs in Stuttgart auf. Zur Schule ging Dino Capovilla in Bozen, machte dort sein Abitur und studierte danach in München Informatik. Capovilla war bereits damals hochgradig sehbehindert. Seit Oktober baut Capovilla den bayernweit ersten Lehrstuhl für Pädagogik bei Sehbeeinträchtigungen an der Uni Würzburg auf. Ab Herbst 2021 kann bei ihm studiert werden.

Inklusion ist noch immer nicht Alltag. Auch nicht für einen Professor wie Capovilla, der zuletzt in Berlin forschte. „Berlin hat mich überfordert“, erklärt er. „Aufgrund meiner Behinderung waren die Wege einfach nicht machbar.“ Würzburg ist kleiner. Ist überschaubar. „Ich habe es in den letzten zwei Wochen als faszinierend erlebt, wie gut ich mich hier orientieren kann.“

Menschen mit Handicap scheitern oft an Barrieren. Weshalb auch viele betonen: „Wir sind nicht behindert, wir werden behindert.“ Capovilla engagiert sich dafür, dass Barrieren fallen. Wobei er das Ideal „Inklusion“ auf absehbare Zeit nicht für realisierbar hält. „Die Gesellschaft war 6000 Jahre lang exklusiv, und wir werden sie nicht in 20 Jahren besser machen.“ Immerhin ist die aktuelle Situation besser als in Capovillas Jugendzeit, wo in der Schule heute kaum mehr vorstellbare Ausgrenzungen möglich waren. So wollte Capovillas Lehrerin den sehbehinderten Jungen nicht beim Sport mitmachen lassen: „Das war in der siebten Klasse.“ Capovilla wehrte sich: „Die Konsequenz war, dass ich mich vom Psychiater begutachten lassen musste.“ Das Ergebnis fiel positiv aus. Der Junge turnte fortan mit.

Urlaubmachen von der "Normalität"

Ein Mensch mit Handicap macht viele Erfahrungen, die ein Nichtbehinderter niemals machen würde. In seinem autobiografisch inspirierten Buch Mein Name ist Toastbrot erzählt Capovilla anhand der Figur seines Helden David vom Kampf ums „Normalsein“. David ist behindert. David ist schwul. Und Sohn konservativer Eltern. Capovilla bekam viele positive Kommentare. In einer Gesellschaft, die inklusiv werden möchte, ist das Informationsbedürfnis zum Thema hoch.

Auch Lehrerfortbildungen stehen hoch im Kurs. Mitunter werden Selbsterfahrungen angeboten. Menschen, die gehen können, setzen sich in einen Rollstuhl und rattern übers Kopfsteinpflaster. Sehende stülpen sich eine Spezialbrille auf. Und plötzlich weiß man, wie es ist, sehbehindert zu sein. „Ach, tatsächlich?“, fragt Capovilla, der Selbsterfahrungen strikt ablehnt. Er hasst jene Oberflächlichkeit, die aus Simulationsübungen resultiert. Denn man verstehe keineswegs, wie es einem Rollstuhlfahrer geht, wenn man selbst einmal lächerliche zwei Stunden lang im Rollstuhl gesessen hat. „Das erlaubt keinerlei Beurteilung von Lebenswirklichkeit“, betont der Professor. Der Schuss könne vielmehr regelrecht nach hinten losgehen, wenn aus einer nicht behinderten Realität heraus Behinderung erlebt wird, meint er. Denn dann sei Mitleid programmiert. Es verfestigen sich Ansichten von den „armen behinderten Menschen“.

Heikel ist für Capovilla aber auch die Ansicht, dass alles für alle gut sein muss. Er ist kein Fan der Forderung, dass alle Förderschulen abgeschafft gehörten. „Deshalb lud mich kürzlich die Aktion Mensch aus“, schmunzelt er. „Ich war denen nicht radikal genug.“

Capovilla ist nicht radikal. Er sei realistisch, sagt er. Und so sieht er, dass nicht plötzlich alle gleich sein können. Möglich ist allerdings ein Ausgleich von Einschränkungen. Dank moderner Technologien funktioniert das besser denn je. „Plötzlich können Blinde Briefe lesen“, so Capovilla. In seinem Uni-Angebot wird es um den Einsatz assistiver Technologien gehen. Was die Studierenden bei ihm lernen, können sie in Schulen in die Praxis umsetzen. Und zwar sowohl in Förder- als auch in Regelschulen.

Gelehrt, geforscht und gelernt wird an Capovillas Lehrstuhl künftig papierlos und ökologisch nachhaltig. Wobei Letzteres einen kleinen Trick darstellt, gibt er zu. Nicht, dass ihm „öko“ in Wirklichkeit egal wäre. Doch er nutzt bewusst die positiven Assoziationen, die das Wörtchen „Nachhaltigkeit“ wecken, um, wie er sagt, das Negative, das mit dem Wort „Behinderung“ einhergeht, also Ängste und Vorurteile, zu kompensieren.

Für Capovilla sind solche Gespräche über sich und seine Profession nicht „ohne“. „Schließlich muss ich die ganze Zeit Theater spielen“, sagt er und erklärt: „So, wie ich jetzt dasitze, so wie ich jetzt blicke, würde ich das niemals tun.“ Capovilla sitzt, wie ein Sehender sitzt. Und blickt, wie ein Sehender blickt. „Diese sogenannten normalen Verhaltensweisen trainieren wir uns an.“ Bei einer blinden Bekannten von ihm gehe dies so weit, dass sie im Gespräch ständig nickt. Es gehört ein Quantum Humor dazu, bewusst um dieses Theaterspiel zu wissen und es dennoch durchzuziehen. Capovilla hat diesen Humor. Aber anstrengend sei dieses Theaterspiel auf Dauer schon, sagt Capovilla. Als Erholung dient ihm deshalb jedes Jahr eine Reise mit einer festen Gruppe behinderter Menschen. Heuer war er mit seinen Bekannten in Pisa: „Das ist für mich Urlaub von der ‚Normalität‘.“

Aber wie sähe aus seiner Sicht eine inklusive Welt aus? Capovilla denkt kurz nach: „Wie in Star Trek.“ Wo es kein Geld mehr gibt, die materiellen Unterschiede beseitigt sind. Und wo die technologischen Möglichkeiten existieren, Beeinträchtigungen zu verhindern oder zu therapieren.
(Pat Christ)

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