Leben in Bayern

Sie nennen sich im Scherz Frau Wauwau und Herr Miau: Helga Poschenrieder und Lu Miao mit Hund Harun im Garten. (Foto: Goetsch)

20.10.2017

In besten Händen

Das Projekt „Wohnen für Hilfe“ bringt Senioren und junge Menschen zusammen: Ein WG-Besuch bei Helga Poschenrieder (81) und Lu (30)

Die Zahl der Studierenden in Bayern ist auf Rekordhoch. Die Zahl derjenigen in Wohnungsnot leider auch. Die Wartelisten der Wohnheime sind endlos, bezahlbare WG-Zimmer rar. Eine Alternative bietet das außergewöhnliche Projekt „Wohnen für Hilfe“. Statt Miete zu bezahlen, gehen Studenten älteren Menschen zur Hand. Und mit Glück entsteht ein unzertrennliches Team.

Vier Bottiche voll Laub hat Lu, 30 Jahre, an diesem Samstagmorgen schon zusammengekehrt. Aber es hört ja nicht auf damit. Und zu tun ist auch eine Menge. Viel zu viel jedenfalls für eine 81-jährige Dame, auch für eine rüstige wie Helga Poschenrieder.

Bei ihr, im Garchinger Bungalow, hat Lu, der aus Nordchina stammt und an der TU Fahrzeugtechnik studiert, die Gartenarbeit kennengelernt. Er hat Braten mit Dörrpflaumen, Rotkraut und Klößen gegessen. Geübt, Käsekuchen zuzubereiten. Er hat sich mit Harun angefreundet, dem ungestüm-freundlichen Hund des Hauses. Und deutsche Weihnachten gefeiert, mit Plätzchen und Geschenken. Ein Fotobuch ist aus all dem auch entstanden, Lu hat sich den Titel ausgedacht, er steht groß auf dem Einband: „In besten Händen“.

Als der Mann stirbt, bietet das Haus viel zu viel Platz

Seit drei Jahren lebt der junge Chinese nun schon in einem Zimmer gegenüber der Eingangstür des Poschenrieder’schen Hauses, 15 Quadratmeter, eine lange Regalwand, ein nicht zu schmales Bett, ein Tisch, alles perfekt für einen Studenten, findet er. Er hat sogar ein eigenes Bad. Und eben Harun, zum Spielen.

Manchmal mäht er Rasen und erinnert sich an seine Großeltern. Auch dort, Tausende Kilometer entfernt, gab es einen Garten und einen Hund. Das Gefühl von damals kommt hoch, wenn abends Kuchen in der Küche steht, und ein Zettel, den Helga Poschenrieder geschrieben hat: „Gute Nacht“ oder „Guten Appetit“. Es ist ein schönes Gefühl, ein heimatliches. „Für mich allein back’ ich ja keinen Kuchen!“, sagt Poschenrieder.

Drei Kinder hat sie im Bungalow großgezogen, inzwischen sind auch die Enkelkinder fast erwachsen, ihr Mann starb vor einigen Jahren. Das Haus bot auf einmal viel zu viel Platz, die Arbeit im Garten war allein nicht zu bewältigen. Poschenrieder hätte ihr Leben umkrempeln, ausziehen und neu anfangen können. Aber sie wollte wohnen bleiben, wo sie jahrzehntelang gelebt hatte. „Es ist die Hülle, die man noch hat“, sagt sie.

Purer Zufall, dass sie in dieser schweren Zeit auf einen Artikel über „Wohnen für Hilfe“ stieß, seit 1996 ein erfolgreiches Projekt des Seniorentreffs Neuhausen, das auch in vielen anderen Städten Fuß gefasst hat. (www.wohnen-für-hilfe.info). Poschenrieder gefiel, dass junge Studenten bei älteren Menschen leben und ihnen, statt Miete zu bezahlen, zur Hand gehen. Dass man aus mehreren Kandidaten auswählen kann und eine Probezeit von einem Monat hat. Darum beschloss sie, es einfach zu probieren.

Zufall auch, dass Lu da gerade genug hatte von der Anonymität des Studentenwohnheims. Auch er meldete sich beim Seniorentreff Neuhausen in der Hoffnung, eine Bleibe zu finden und einen Menschen, von dem er erfahren würde, was das ist: die deutsche Kultur.

Wie Lu damals versammeln sich noch immer Freitag für Freitag um zwölf Uhr Studenten auf Zimmersuche im Seniorentreff. Nebenan, hinter der Schiebetür, sitzen ein paar Ältere beim Karten- oder Brettspiel. Die Studenten im Aufenthaltsraum dagegen stehen ein wenig unter Druck. Sie suchen mitunter ewig nach einer Bleibe, es ist ein hartes Geschäft. Sorgfältig kreuzen sie in ihrem Bewerbungsbogen an, ob sie regelmäßig an Wochenenden nach Hause fahren und ob sie Raucher sind, ob sie den Führerschein besitzen und Erfahrungen im sozialen Bereich haben. Sie wählen Hilfeleistungen aus, die sie zu leisten bereit sind: Handwerkliches, Hausarbeit, Unterstützung am Computer oder Gesellschaft leisten. Und sie geben an, wie viele Stunden pro Woche sie zur Verfügung stehen. Sie dürfen auch Wünsche äußern: Wollen sie zu einer Frau, zu einem Mann oder zu einem Ehepaar? Wohnen sie lieber möbliert oder unmöbliert? Wichtig auch die Frage, was sie besonders stören würde beim Zusammenleben. „Lautes Fernsehen, starke Gerüche“, schreibt eine Studentin hin. „Katzen“ einer, der eine Allergie hat.

Für einen Quadratmeter Wohnfläche wird eine Stunde Hilfeleistung pro Monat erwartet, Nebenkosten exklusive. Viel Hoffnung machen die Sozialpädagoginnen Brigitte Tauer und Ursula Schneider-Savage den Studenten allerdings nicht. Auf ein Zimmer kommen fünf bis zehn Studenten. Unter den Bewerbern ist zum Beispiel eine Lehramtsstudentin. Sie hat schon viele Bruchbuden angeschaut, für 650 Euro das Zimmer, kann aber nicht so viel bezahlen. Ein Student ist dabei, der gerade in der Notunterkunft des Studentenwohnheims das letzte Bett ergattert hat. Und eine nicht mehr ganz junge Frau stellt sich als „Halbstudentin“ vor, sie geht auf eine private Schauspielschule. „Aber ich habe eine Bitte“, sagt sie, „ich möchte eine nette Frau. Ich bin selber nett. Und ziemlich empfindlich, wenn mich jemand anschreit.“

Tauer hat schon viele Studenten befragt. 15 Jahre ist sie dabei, sie hat ein Gefühl dafür, was klappen könnte und was nicht. Im Nebenzimmer interviewt ihre Kollegin Schneider-Savage gerade den 25-jährigen Sebastian Londorno Aronge. Sie lege Wert darauf, dass die Studenten eine große Selbstreflexivität mitbringen, sagt sie. Der Kolumbianer könnte ihre Kriterien erfüllen. Erst am Vortag ist er aus Bonn angereist und wirkt genauso freundlich, gesellig und ruhig, wie er sich selbst beschreibt. Was er mit Altsein verbinde, wird er gefragt. „Viel zuhause sein, wenig Kontakt mit Menschen haben“, antwortet Londorno Aronge. Ob er auch etwas Positives sehe? „Durch ihre Erfahrungen können sie anderen Menschen helfen.“ Schneider-Savage nickt. „Es ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen.“

Was die Studenten angeht, können sich die Pädagoginnen erlauben, wählerisch zu sein. Die Auswahl an älteren Menschen allerdings ist gering. Ausgeschlossen wird trotzdem, wer sich nicht eignet. Eine Wohnung war zu vermüllt, erzählt Tauer, die Demenz einer anderen Dame zu weit fortgeschritten. Eine dritte wünschte sich einen Mitbewohner, der Abend für Abend bei ihr sitzt. Bei einer anderen gab es einfach nichts zu tun.

Es kann immer passieren, dass die älteren Menschen zu fordernd sind oder zu penibel oder zu ängstlich für ein Zusammenleben. Manchmal ist es auch besser, Hilfe gegen Geld einzukaufen. „Wohnen für Hilfe“ sei nun mal ein Nischenprojekt, sagt Brigitte Tauer, und nicht für jeden geeignet. „Aber wenn es passt, ist es etwas ganz Wunderbares.“

Eines darf man nicht sein, sagt Poschenrieder: kleinlich

Lu war der zweite von drei Studenten, die zu Helga Poschenrieder geschickt werden sollten. Als sie ihn kennengelernt hatte, rief sie beim Seniorentreff an. Sie verzichte auf einen dritten Vorschlag, sagte sie. Ihr Gefühl hat sie nicht getrogen.

Die beiden siezen einander noch immer, aus Respekt. Scherzhaft nennen sie sich aber auch Frau Wauwau und Herr Miau, weil Lu mit Nachnamen Miao heißt. Vertrauen ist für sie selbstverständlich. Das muss man schließlich haben, findet Poschenrieder, wenn man sein Haus öffnet. Gut sei auch, ein bisschen neugierig zu sein und zu tolerieren, dass andere anders sind, sagt sie. Auch Lu meint: Man brauche Offenheit. Was man nicht sein darf, sagt Poschenrieder: „Kleinlich!“ Sie führt nicht Buch über die Stunden, die Lu bei ihr arbeitet, im Winter sind es weniger, im Herbst mehr, es geht sich irgendwie aus.

An diesem Samstag ist viel zu tun. Der Wertstoffhof macht bald zu. Außerdem muss noch ein Ast vom Baum gesägt und die Garage aufgeräumt werden. Aber erst mal kommt Poschenrieder mit einer Flasche Dünger zu Lu. „Ich krieg’ das Ding nicht auf“, sagt sie. Lu nestelt ein bisschen am Verschluss herum. Dann klappt es. In wenigen Monaten wird er mit der Promotion an der TU fertig sein. Behält er sein Zimmer, wenn er eine Stelle in München findet? Ein bisschen heikel, die Frage. Lu neigt den Kopf und sieht Poschenrieder an. „Wenn ich darf, würde ich hierbleiben“, sagt er vorsichtig. „Ich fänd’s schade, wenn das aufhört, wir sind so gut eingespielt“, meint sie. „Es klappt perfekt.“ Sie weiß: Für jeden Nachfolger hängt die Hürde sehr hoch. (Monika Goetsch)

Kommentare (0)

Es sind noch keine Kommentare vorhanden!
Die Frage der Woche

Ist das geplante Demokratiefördergesetz sinnvoll?

Unser Pro und Contra jede Woche neu
Diskutieren Sie mit!

Die Frage der Woche – Archiv
Vergabeplattform
Vergabeplattform

Staatsanzeiger eServices
die Vergabeplattform für öffentliche
Ausschreibungen und Aufträge Ausschreiber Bewerber

Jahresbeilage 2023

Nächster Erscheinungstermin:
29. November 2024

Weitere Infos unter Tel. 089 / 29 01 42 54 /56
oder
per Mail an anzeigen@bsz.de

Download der aktuellen Ausgabe vom 24.11.2023 (PDF, 19 MB)

E-Paper
Unser Bayern

Die kunst- und kulturhistorische Beilage der Bayerischen Staatszeitung

Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.

Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.