Leben in Bayern

Die steigenden Preise für Lebensmittel und Energie bringen immer mehr Menschen in Not, die nun Hilfe bei der Tafel suchen. (Fotos: Oßberger)

13.05.2022

Tafeln vor dem Kollaps

Die Lebensmittelspenden werden weniger, die Zahl der Bedürftigen nimmt zu: Nicht nur bei der Ingolstädter Tafel ist die Lage angespannt wie nie

Vor Corona unterstützte die Ingolstädter Tafel rund 1900 Menschen. Aktuell sind es 2400 – plus 500 Geflüchtete aus der Ukraine. „Wir sind am absoluten Limit“, erklärt die Vorsitzende Petra Willner. Auch weil es immer weniger Lebensmittel gibt, die die Helfenden verteilen können. Von den Supermärkten kommt weniger verwertbare Ware und auch die Geldspenden gehen zurück.

Es ist Mittwoch, 9.30 Uhr. In einer halben Stunde öffnet die Tafel, doch schon jetzt haben sich vor dem Eingang am ehemaligen königlichen Proviantamt, in dem der Verein seit 2008 untergekommen ist, zwei lange Schlangen gebildet. Ob die 800 Lebensmittelpakete, die die Mitarbeitenden gestern gepackt haben, reichen?

Petra Willner, die resolute Vorsitzende des Vereins, die gerade ein Telefonat beendet und dann noch schnell ein Logistikproblem gelöst hat, lässt ihren Blick über die Menge schweifen. Über die alten Menschen, die mit karierten Einkaufstrolleys anstehen, die jungen Menschen mit großen Plastiktaschen in der Hand, die Mütter mit Kinderwägen. Eine Prognose zur heutigen Ausgabe wagt die Tafel-Chefin nicht. In der vergangenen Woche, sagt sie, hätten sie einige wenige Menschen wegschicken müssen. Das sei zuvor noch nie vorgekommen. „Aber wir hatten keine Lebensmittel mehr, wirklich gar nichts mehr.“

Geht es so weiter, droht ein Aufnahmestopp

Was Willner und die 120 Mitarbeitenden der Ingolstädter Tafel derzeit erleben, ist kein Einzelfall. Alle 172 Tafeln in Bayern bekommen die Nachwehen der Corona-Pandemie und die Auswirkungen des Ukraine-Krieges unmittelbar zu spüren. Es gibt immer weniger Lebensmittel, die die Helfenden verteilen können, weil die Supermärkte knapper kalkulieren und weil Firmen und Unterstützende in Zeiten wirtschaftlicher Verwerfungen sparen. Gleichzeitig aber wächst die Zahl der Bedürftigen. Es sind Menschen darunter, die während der Corona-Pandemie ihren Job verloren haben. Es sind Rentner*innen, Alleinerziehende und Beschäftigte aus dem Niedriglohnsektor, deren Geld nicht ausreicht, um die steigenden Preise für Energie und Lebensmittel aufzufangen. Und seit März sind es auch Flüchtlinge aus der Ukraine.

Seit 1993 sorgen mittlerweile rund 960 Tafeln und Zehntausende Ehrenamtliche in Deutschland dafür, dass Lebensmittel, die aus dem Handel aussortiert werden, die aber noch gut und verzehrbar sind, an Menschen in Not weitergeleitet werden. Jetzt steht das System vor dem Kollaps. Vor der Pandemie lag die Zahl derer, die bei der Ingolstädter Tafel Hilfe bekamen, bei rund 1900. Aktuell unterstützt der Verein 2400 Bedürftige, plus 500 Flüchtlinge. Bei der Nürnberger Tafel hat sich diese Zahl sogar verdoppelt, von 5000 auf jetzt 10 000 Menschen. In Bayreuth war der Ansturm so groß, dass der Verein im April die Notbremse zog und „schweren Herzens“ verkündete, einen Monat lang keine Neukundschaft mehr aufzunehmen. Auch in anderen Teilen Deutschlands haben bereits erste Tafeln einen Aufnahmestopp verhängt.

Petra Willner trinkt einen Schluck Wasser, für eine längere Pause ist keine Zeit. „Wir sind am absoluten Limit“, sagt die Tafel-Chefin, während sie die Lagerbestände kontrolliert. Noch wehrt sie sich gegen einen Aufnahmestopp, ausschließen kann sie ihn aber nicht. „Wenn das so weitergeht, dann werden wir diesen Schritt gehen müssen“, sagt sie. Dabei geht es ihr auch um die vielen Ehrenamtlichen, deren Tage immer länger und anstrengender werden. „Wir alle sind mit Herzblut und Leidenschaft dabei, wir alle sind hier, weil wir helfen wollen“, sagt die Vorsitzende und wuchtet eine Kiste Nudeln vom Stapel. „Aber unsere Kräfte sind endlich. Wie lange wir das noch schaffen …“ Die 57-Jährige lässt den Satz ins Leere laufen. „Wir sind Optimisten“, sagt sie schließlich.

„Die Tafeln können den Druck alleine nicht aushalten“, sagte Jochen Brühl, Vorsitzender des Tafel-Bundesverbands, vor Kurzem den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Die Lage sei so angespannt wie nie, die ehrenamtlichen Helfer seien „teilweise pausenlos im Einsatz und erleben es als belastend, wenn sie Menschen nicht helfen können, weil keine Lebensmittel mehr da sind zum Weitergeben“. Brühl forderte die Politik auf, die von Armut bedrohten Menschen gezielter zu unterstützen, die Harz-IV-Regelsätze müssten schnell erhöht und die Menschen mit geringem Einkommen deutlich entlastet werden. „Die Tafeln sind nicht Teil des sozialstaatlichen Systems. Wir helfen ehrenamtlich und nach Kräften, aber es war nie die Idee der Tafeln, alle armutsbetroffenen Menschen verlässlich und verbindlich zu versorgen“, sagte Brühl.

Und noch ein weiteres Problem sprach Brühl an. Die Ämter, sagte er, würden die Flüchtlinge aus der Ukraine direkt an die Tafeln verweisen. „Das aber können wir nicht leisten.“ In diesem Zusammenhang hatten die Tafeln in Niedersachsen und Bremen als vorübergehende Lösung angeregt, die Geflüchteten mit Gutscheinen für den Lebensmittelkauf zu versorgen, um den Druck von den Tafeln zu nehmen. Doch der Städte- und Gemeindebund lehnte ab. Hierfür fehle die Rechtsgrundlage.

In Ingolstadt hat die Ausgabe begonnen. Nach der Kontrolle an der Tür, wo die Frauen und Männer ihren Tafel-Berechtigungsschein vorzeigen müssen, geht es zuerst zur Brotausgabe. Zur Wahl stehen, zumindest jetzt noch, lose Semmeln und Brot sowie abgepackte Brotscheiben. Die Gemüse- und Obsttüten am Tresen sind bereits fertig gepackt. Diese Woche sind es Tomaten, Trauben, Mandarinen und Lauchzwiebeln. „Es war schon einmal mehr“, sagt eine der Helferinnen. „Aber was sollen wir machen?“ Immerhin gab es bei den Grapefruits in dieser Woche eine größere Lieferung, doch auch dieser Vorrat geht schnell zur Neige. Am Ende des Tresens stehen die Tüten mit Trockenware und den Molkereiprodukten. Gerade bei Käse, Butter und Milch sei der Rückgang deutlich zu spüren, sagt Willner. Aber auch Nudeln und Reis seien keine Selbstverständlichkeit. „Je länger die Lebensmittel haltbar sind, desto weniger müssen sie von den Märkten aussortiert werden.“

Corinna Weber, die in Wirklichkeit anders heißt, kommt seit einigen Wochen zur Tafel. Die 45-Jährige ist alleinerziehend mit zwei Kindern. Unterhalt vom Vater bekomme sie nicht, sagt sie. Sie selbst arbeitet in Teilzeit als Verkäuferin, zum Mindestlohn. „Ohne das hier“, sagt sie und zeigt auf den Eingang, „würde ich nicht mehr über die Runden kommen.“

Längst müssen viele Tafeln Tonnen von Lebensmitteln zukaufen, weil die Spenden nicht mehr ausreichen. Doch die Vereine stoßen auch hier an ihre Grenzen. Manche Waren, wie etwa Öl, sind in größeren Mengen kaum mehr zu bekommen. Und etwas teurere Produkte wie Kaffee oder Honig sind finanziell kaum drin. Auch die Tafeln haben mit den steigenden Energie- und Benzinkosten zu kämpfen: Die Kühlung der Produkte wird teurer, die Transportkosten auch. Verbandschef Brühl ruft deshalb die Kommunen auf, Tafeln mit kostenfreier Energie oder Miete zu unterstützen und bittet um Spenden. „Sowohl Geld als auch vor allem lang haltbare Lebensmittel werden benötigt“, so Brühl.

Es fehlt an allem: Platz, Kühlungen, Spenden

Bei der Ingolstädter Tafel kommt noch eine weitere Herausforderung hinzu, und das ist der Platz, der hier an allen Ecken und Enden fehlt. Es gibt zu wenige Kühlungen, zu wenig Lagerplätze und zu wenig Arbeitsraum für die Mitarbeitenden, die alle Lebensmittel vor der Ausgabe kontrollieren, putzen und aussortieren. Oft genug ist bei den Spenden Ware dabei, die seit Wochen und Monaten abgelaufen ist. Die Abfalltonnen, in denen diese Lebensmittel landen, stehen, mangels Alternative, mitten im Raum.

Der Verein bemüht sich seit Langem um zusätzliche Räumlichkeiten, bisher jedoch erfolglos. Auch die Stadt hat sich eingesetzt, aber die an den Standort angrenzende Lagerfläche, um die es geht, gehört dem Freistaat Bayern, und dieser hat die Vermietung an die Tafel abgelehnt. Mittelfristig, sagt die Stadt Ingolstadt auf Anfrage, wäre es wohl einfacher, wenn die Tafel einen anderen Standort ins Auge fassen würde. Das aber lehnt wiede-rum Petra Willner ab. „Wir müssen in der Nähe des Busbahnhofs und des Sozialamts bleiben, damit wir für alle unsere Kunden gut erreichbar sind“, sagt sie.

Kurzfristig lässt sich dieses Problem nicht lösen, aber die Vorsitzende muss sich jetzt ohnehin um andere Dinge kümmern. Um den Eistee, der ausgegeben werden soll, um einen Mann, der hier mithelfen will und um ein Missverständnis an der Eingangstür. „Wir bräuchten hier irgendetwas, mit dem wir die vielen Kinder beschäftigen können“, sagt sie etwas später mit Blick auf die immer noch langen Warteschlangen.

Sie will diese Idee im Hinterkopf behalten, wie so viele andere Ideen auch. Jetzt aber geht die heutige Ausgabe vor. Immerhin: An diesem Mittwoch sind genug Lebensmittel für alle da. (Beatrice Oßberger)

Foto im Text: Jede Woche wird die Schlange länger vor der Ingolstädter Tafel.

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