Leben in Bayern

Dass keine Gewalt angewendet werden soll, darauf muss man heutzutage schon in Klassenzimmern extra hinweisen. (Foto: dpa/Stache)

19.05.2023

Wenn Schulkinder die Lehrkräfte schlagen

Verbale oder sogar körperliche Gewalt von Kindern im Klassenzimmer nimmt zu – das hat auch mit dem Medienkonsum zu tun

Undenkbar heute, dass eine Lehrkraft einem Kind eine Watschen gibt. Gewalt gegen Schüler*innen ist in Schulen absolut tabu. Nun mag sich hier oder dort ein schwarzes Schaf tummeln. Das sehr viel größere Problem dieser Tage stellt jedoch die wachsende Gewalt von Kindern und Jugendlichen gegenüber Lehrkräften dar. Unlängst zum Beispiel warf ein Junge in einer unterfränkischen Grundschule ein schweres Eisenschloss gegen eine Lehramtsanwärterin. Die stand danach völlig unter Schock.

Wie kann ein kleiner Junge von neun Jahren nur so etwas tun? „Der betreffende Schüler war massiv auffällig, er hatte meist zu nichts Lust, hat sich oft über den Tisch gehängt oder andere Kinder geärgert“, sagt Grundschullehrerin Carola L. (Namen aller Lehrkräfte geändert). Damals, als die Situation eskalierte, war er einfach fortgerannt: „Unsere Lehramtsanwärterin rannte ihm nach.“ Der Junge entdeckte auf seiner „Flucht“ aus dem Klassenzimmer besagtes Eisenschloss. Er nahm das schwere Ding in die Hand. Und warf es der jungen Frau ohne mit der Wimper zu zucken entgegen. Die hätte nach diesem Vorfall beinahe ihren Beruf an den Nagel gehängt.

Das größte Problem heutzutage sind nach Aussage von Lehrkräften meist nicht einmal Schüler*innen, die ausflippen, sondern vielmehr Eltern, die alles, was ihr Kind tut, rechtfertigen und selbst schrägstes Benehmen mit einem Achselzucken quittieren. „Die Eltern schützen ihre Kinder, egal, welches Verhalten sie zeigen“, sagt Wolfgang B., Lehrer an einer unterfränkischen Mittelschule. In Elterngesprächen bekommt er mit, dass Väter und Mütter keine Konflikte mehr mit ihren Kindern austragen wollen. Nicht zuletzt deshalb nehmen nach seiner Erfahrung Gewalt, Aggressivität und Respektlosigkeit an Schulen ständig zu.

Auch die Eltern sind inzwischen ein Stressfaktor für Lehrkräfte

Sowohl die Null-Bock- als auch die Protestgeneration seien Vergangenheit, hatte Jugendforscher Klaus Hurrelmann 2006 verkündet. Nach seinen damaligen Analysen war die Jugend vor 17 Jahren äußerst „pragmatisch“. Nun scheint beides wieder zurückgekehrt. Zum einen nimmt der Jugendprotest immer bizarrere Formen an. Zum anderen gibt es immer mehr Kids, die sich komplett ausklinken.

Was Wolfgang B.s Kollegin Johanna R. im Augenblick am meisten erschreckt, ist, wie unglaublich „abgestumpft“ ein großer Teil ihrer Schüler*innen in der Klasse sitzt. Die Kinder berühre nichts mehr. Selbst schlimme Nachrichten und brutalste Filmszenen ließen sie kalt. Das liegt am Internet, das sich immer deutlicher als eine zweischneidige Angelegenheit erweist. Sicher wird vieles durch das weltweite Netz leichter. Vieles wird dadurch erst möglich. Nicht zuletzt in der Schule. Aber sehr vieles wird auch zerstört. Gerade, was das soziale Verhalten anbelangt.

„Über Social Media sehen unsere Kinder jeden Tag ohne Ende Gewaltvideos“, weiß Wolfgang B., der hierzu eine eigene, kleine Untersuchung in seiner Klasse angestellt hat. Dadurch werde die Hemmschwelle, verbal oder körperlich aggressiv zu werden, permanent gesenkt: „Unsere Kinder sehen in Videos Tag für Tag, wie Menschen geköpft, erschossen oder misshandelt werden.“

Vielleicht daher mag ein schier unstillbarer Drang nach Selbstbehauptung rühren: Es gibt Kinder, die sich von ihrer Lehrkraft nichts, aber absolut gar nichts mehr sagen lassen. Erhalten sie Anweisungen, ticken sie aus.

Auch Wolfgang B. hat das kürzlich erlebt: „Ich gab einem Schüler eine Schreibarbeit auf, weil ich mit den anderen in Ruhe weitermachen wollte.“ Der Teenie stürmte aus dem Zimmer und begann auf dem Pausenhof mit unflätigsten Ausdrücken über den Lehrer herzuziehen und ihm zu drohen: Was er ihm alles antun würde, er solle nur sehen! Niemals hätte Wolfgang B. mit einem derartigen Wutausbruch gerechnet. Obwohl der Teenager ein „Problemschüler“ ist.

Viele Kinder in Wolfgang B.s Klasse werden nur von einem Elternteil großgezogen. Viele erlebten Trennungen oder Scheidungen mit. Viele haben „Patchwork-Erfahrungen“. Auch hierauf führt es der Mittelschullehrer zurück, dass Kinder und Jugendliche immer schwieriger werden. „Von meinen 25 Kindern stammen allerhöchstens fünf aus normalen Verhältnissen“, sagt er. Etliche Kinder wachsen nach seinen Beobachtungen emotional vernachlässigt auf.

„Es werden aber auch immer mehr Jungen und Mädchen zu Helikopterkindern, weil sich die Eltern in einem Übermaß um sie kümmern“, sagt Helmut Schmid, Vorsitzender des Unterfränkischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (ULLV). Nun ist es nach Beobachtungen von Lehrerinnen und Lehrern nicht einmal immer so, dass die Wut gärt in Kindern, die verbal ausfällig werden. Selbst Grundschüler haben sich inzwischen ein rüdes Vokabular angeeignet, das ihnen selbst vollkommen normal erscheint. Auch dies liegt ganz offensichtlich an den neuen Medien.

Kraftausdrücke gehören schon zum normalen Umgangston

Verbale Attacken untereinander seien selbst bei Kindern in ländlichen Regionen an der Tagesordnung, sagt Carola L.: „Wir hören immer wieder Ausdrücke wie: ‚Fuck dich, du Hurensohn!‘“ Carola L. weiß das sehr genau, denn irgendwann hatte die Lehrerin begonnen, eine Liste zu führen mit allen Flüchen und Obszönitäten, die sie von den Kindern hört.

Angesichts dieser Situation fragen sich Lehrkräfte immer öfter, ob zum Beispiel die Interpretation eines Gedichts jetzt wirklich Sinn ergibt. Oder ob es in diesem Moment nicht Wichtigeres gäbe als das, was der Lehrplan vorsieht.

Was Kinder und Jugendliche oft viel dringender bräuchten, wäre Know-how im weiten Feld der Lebensführung, meint Wolfgang B., den die zunehmende Verrohung schockiert. Inzwischen sei es zum Beispiel völlig normal, dass ein Junge zu einem andern, der eigentlich sein bester Kumpel ist, sagt: „Hey, Fettsack, komm mal her!“ Was bedeutet Respekt? Welche Auswirkungen hat eine unflätige Sprache? Darüber gelte es, mit den Kindern in der Schule zu reflektieren.

Noch ist Jugendgewalt kaum Thema der Juristik. Das verwundert auch nicht, weil die Straftaten, die von 14- bis 18-Jährigen begangen wurden, kontinuierlich sanken, und zwar von 218 025 Fällen im Jahr 2015 auf 154 889 im Jahr 2021. Das nordrhein-westfälische Innenministerium allerdings gab unlängst bekannt, dass die Straftaten durch Kinder unter 14 Jahren im Jahr 2022 geradezu sprunghaft angestiegen seien. Auch laut der Münchner Kriminalstatistik von 2022 stieg die Zahl der tatverdächtigen Kinder unter 14 Jahren im Vergleich zum Vorjahr um 28 und im Vergleich zu 2019 sogar um 48 Prozent auf 1310 an. Bei den Jugendlichen erhöhte sich die Zahl zwischen 2021 und 2022 um 8 Prozent.

Fallen Kinder und Jugendliche durch massive Brutalität auf, ist ein hohes Medienecho zu erwarten. So gingen denn auch in den letzten Jahren mehrere höchst spektakuläre Fälle durch die Presse. 2019 zum Beispiel wurde ein Feuerwehrmann in Augsburg durch den Faustschlag eines 17-Jährigen getötet. Vor zwei Jahren wurde eine 14-Jährige in München im Schlaf von einem 17-jährigen Freund erstochen. Im November 2021 starb eine 16-Jährige in der Nähe des Flughafens Memmingen durch Stiche. Unter den Tatverdächtigen befand sich ein 15 Jahre altes Mädchen. Vor wenigen Wochen wurde die zwölf Jahre alte Luise aus Freudenberg von zwei Kindern getötet. (Pat Christ)
 

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