Politik

Sollen Schwerkriminelle weiterhin in Sicherungsverwahrung genommen werden? (Foto: ddp)

13.08.2010

Auf Nummer unsicher

In Bayern könnten bald bis zu 23 gefährliche Straftäter auf freien Fuß gelangen – die Folgen sind kaum absehbar

Internet-Pranger, elektronische Fußfessel, nachträgliches Wegsperren von Schwerkriminellen: Die Debatte um verschiedene Sicherungsverfahren in Bayern und Deutschland ist auf mehreren Ebenen voll entbrannt. Vor allem zwischen Union und FDP gibt es Streit, obwohl eine Reform bereits im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und Liberalen vereinbart worden war.
Im Kern geht es um die so genannte Sicherungsverwahrung. Deren Ziel ist, die Bevölkerung vor besonders gefährlichen Straftätern zu schützen. Wenn es notwendig ist, auch nach dem Ende der eigentlichen Haftstrafe. Seit Dezember des vergangenen Jahres gibt es allerdings eine wichtige Einschränkung: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat beanstandet, dass die Sicherungsverwahrung, die bis 1998 nur für die Dauer von zehn Jahren verhängt werden durfte, für einige Straftäter nachträglich verlängert worden war.
Seitdem Straßburg die deutsche Praxis in diesem Punkt für unzulässig erklärte, lassen bereits mehrere Bundesländer verurteilte Straftäter frei, die von der beanstandeten Regelung betroffen waren. Bundesweit wurden nach einem Bericht der Frankfurter Rundschau bislang 15 Straftäter entlassen.


20 Beamte müssten eine Person bewachen


In Bayern sind laut Justizministerium 19 Straftäter von dem EGMR-Urteil betroffen. Einer sitzt wegen schwerer Brandstiftung im Gefängnis, drei wegen Gewaltverbrechen, 15 wegen schwerer Vergewaltigungen. In diesem Jahr kommen allerdings noch vier Täter hinzu, deren Zehn-Jahres-Fristen in den nächsten Monaten ebenfalls ablaufen. Auf freiem Fuß ist noch keiner der Verurteilten, dagegen sträuben sich die bayerischen Gerichte – noch. Allerdings könnte sich dies bald ändern:
Ein 52-Jähriger, der wegen mehrerer Vergewaltigungen zu insgesamt elf Jahren Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt worden war, wehrt sich gegen seine weitere Inhaftierung. Der Fall beschäftigt derzeit den Bundesgerichtshof. Sollte dieser das Urteil aus Straßburg bestätigen, käme der in der JVA Straubing inhaftierte Sexualverbrecher frei.
Währenddessen streiten Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), Innenminister Thomas de Maizière (CDU) und andere Unionspolitiker um eine gemeinsame Linie und einen Gesetzentwurf. Eine Reform der Sicherungsverwahrung war bereits im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und Liberalen vereinbart worden, doch seit dem EGMR-Urteil treten die Brüche in der Regierung offen zutage.
De Maizière, Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) und Bayerns Justizministerin Beate Merk (CSU) wollen die Täter überhaupt nicht freilassen. Sie fordern eine Unterbringung der vom EGMR-Urteil betroffenen Häftlinge in eigenen, geschlossenen Anstalten für Sicherungsverwahrte. Doch dies kostet viel Geld, braucht Zeit und ist mit dem europäischen Recht nicht vereinbar. Auch deshalb ist Leutheusser-Schnarrenberger überzeugt, dass es „für Altfälle, die jetzt von dem Urteil des EGMR betroffen sind, nicht rückwirkend eine erneute Sicherungsverwahrung geben kann“. Sie wirft de Maizière vor, eine Neuregelung zu blockieren.
Die FDP-Politikerin präsentierte auch gleich einen Plan zur Überwachung der betroffenen Straftäter: elektronische Fußfesseln. Diese gleichen Armbanduhren und sind mit einem Sender ausgestattet, der per Telefon- oder Mobilfunknetz mit der zuständigen Behörde verbunden ist. In verschiedenen Bundesländern wurden sie getestet, allerdings meist nur in minder schweren Fällen, wie zur Kontrolle von Bewährungsstrafen. Leutheusser-Schnarrenbergers Vorstoß gefiel de Maizière nicht und stieß auch bei anderen Unionspolitikern und der Polizei auf erhebliche Kritik.
Eine solche Fessel könne nützlich sein, „aber sie sagt ja nur, wo sich jemand aufhält, und nicht, was er tut“, argumentiert de Maizière. Der Chef der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Konrad Freiberg, sprach von einer „völlig ungeeigneten“ Maßnahme und „reiner Science Fiction“.


Verzweiflungsvorschlag Internet-Pranger


Doch wie soll die Gesellschaft sonst geschützt werden? Eine Sprecherin des bayerischen Justizministeriums sagte, freigelassene Täter müssten „engmaschig überwacht werden“. Bayerns GdP-Vorsitzender Harald Schneider fürchtet hierbei allerdings einen monströsen Aufwand: „Eine Person bindet bis zu 20 Kollegen, die ihn im Schichtdienst vor dem Haus, beim Einkaufen, vor der Arbeitsstelle überwachen.“ Hochgerechnet auf die 19 Häftlinge wären dies 180 Beamte. „Damit wäre die bayerische Polizei personell völlig überfordert“, sagte Schneider der Bayerischen Staatszeitung.
Als sich zuletzt auch noch mehrere Unionspolitiker und der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, mit dem Vorschlag zu Wort meldeten, die Aufenthaltsorte bestimmter Sexualstraftäter künftig öffentlich zu machen, war das Sommertheater perfekt. Fast alle involvierten Akteure reagierten mit Kopfschütteln: das Bundesinnen- und Justizministerium genauso wie die GdP, die von einem rechtswidrigen „Internet-Pranger“ sprach, wegen dem sie auch noch haftentlassene Straftäter vor „unabsehbaren Reaktionen aus der Bevölkerung“ schützen müsse.
Damit befindet sich das drängende Thema endgültig in einer Sackgasse. Zentral für Bayern wird sein, ob der Bundesgerichtshof der Beschwerde des 52-jährigen Häftlings stattgibt – und damit das EGMR-Urteil bestätigt. Gespannt wartet die Politik auch auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu einem ähnlichen Fall. In Fachkreisen wird erwartet, dass sich die beiden höchsten Gerichte absprechen. So oder so: Eine Lösung wird es frühestens im Herbst geben. (Sebastian Winter)

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