Politik

Von technischen Problemen betroffen: die Bordhubschrauber vom Typ Sea Lynx der Fregatte „Bayern“. (Foto: dpa/Ingo Wagner)

03.01.2020

"Das neue Aufgabenspektrum überfordert die Truppe"

Kersten Lahl, Generalleutnant a. D. und Vizepräsident der deutschen Gesellschaft für Sicherheitspolitik, über Ausrüstungsprobleme der Bundeswehr und künftige Herausforderungen

Noch nie seit dem Ende des Kalten Kriegs war die militärische Lage in Europa so angespannt wie derzeit. Kersten Lahl, Generalleutnant a. D. und Vizepräsident der deutschen Gesellschaft für Sicherheitspolitik, spricht über die Ausrüstung der Bundeswehr, Putins militärische Provokationen und die Kompetenz der Bundesverteidigungsministerin.

BSZ: Herr Lahl, die Ausrüstung der Bundeswehr sorgt immer wieder für Schlagzeilen. Auf einer Skala von 1 (total schlecht) bis 10 (super) – wie würden Sie diese einordnen?
Kersten Lahl: Insgesamt irgendwo zwischen 3 und 5. Jedenfalls ist der Stand in keiner Weise zufriedenstellend für eine Nation wie Deutschland. Zwar bedeuten diese Mängel nicht, dass die aktuellen Aufgaben in Afghanistan oder in Mali nicht erfüllt werden können. Aber die Bundeswehr bewegt sich seit Jahren ständig am Anschlag ihrer Leistungsfähigkeit. Es fehlen die Reserven, die eine Sicherheitsvorsorge braucht, falls es mal noch ernster wird.

BSZ: Wie konnte es so weit kommen?
Lahl: Die Ursachen gehen weit zurück, bis in die 1990er-Jahre. Damals dachten alle, mit dem Ende des Kalten Kriegs könne man die sogenannte Friedensdividende einfahren, also langfristig die Ausgaben für das Militär reduzieren. Doch dann kamen unerwartet neue Herausforderungen – erst auf dem Balkan und in Somalia, dann in Afghanistan. Die Bundeswehr war bis dahin eine primär auf die Landes- und Bündnisverteidigung ausgerichtete Armee. Doch Auslandseinsätze sind fundamental anders. Daher musste alles neu gedacht werden: bei der Ausbildung, der Logistik, der Kommunikation. Und das alles ohne Anschubfinanzierung. Spätestens mit der Krim-Krise 2014 schließlich und der damit verbundenen Renaissance der Bündnisverteidigung wurde der Substanzverlust seit dem Kalten Krieg endgültig offenbar. Und dieses nun erneut erweiterte Aufgabenspektrum überfordert schlichtweg.

BSZ: Wo bestehen die größten Defizite?
Lahl: Salopp gesagt: bei allem, was fliegt und schwimmt. Die persönliche Ausrüstung der Soldaten ist aber vergleichsweise in Ordnung.

BSZ: Aber gab es um das neue Gewehr nicht auch Ärger?
Lahl: Das wurde etwas merkwürdig hochstilisiert. Das G36 ist deutlich besser als sein Ruf – auch wenn es in Afghanistan bei hohen Temperaturen und extremer Beanspruchung mitunter zu verminderter Treffsicherheit gekommen sein mag. Aber insgesamt sind nach meiner Kenntnis die Soldaten mit dem Gewehr zufrieden.

BSZ: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat die Nato als „hirntot“ bezeichnet. Zu Recht?
Lahl: Man sollte alle diese Aussagen nicht auf die Goldwaage legen und eher als Weckruf an die Nato verstehen, sich auf ihre strategischen Grundlagen zu besinnen. Dafür können diese Nadelstiche ganz hilfreich sein. Aber klar, es besteht dadurch auch immer die Gefahr, dass der Spaltpilz im Bündnis um sich greift. Trotzdem: Auch wenn sich die Nato derzeit unbestritten in der Krise befindet, wage ich die Prognose, dass sie alles andere als ausgedient hat.

BSZ: Die Meinungsstreitigkeiten eskalieren aber weiter – gerade erst hat Erdogan damit gedroht, die US-Militärbasen in der Türkei zu schließen.
Lahl: Wenn man das nicht nur als das übliche verbale Getöse des türkischen Präsidenten abtun will, dann wäre es in der Tat eine enorme Belastung. Die Türkei ist für die Nato schon immer von größter geostrategischer Bedeutung, sie ist ein Bindeglied nach Asien, sie beherrscht die Zugänge aus dem Schwarzen Meer, sie kontrolliert Energielieferungen nach Westeuropa und einiges mehr. Es besteht also ein hohes Interesse, dass sie der Allianz als Mitglied erhalten bleibt.

BSZ:
Aber muss man sich nicht fragen, ob sie das überhaupt noch soll? Die Nato versteht sich ja nicht nur als Verteidigungsbündnis, sondern auch als Wertegemeinschaft. Mit einer Demokratie hat die autoritäre Ein-Mann-Herrschaft in der Türkei aber nicht mehr viel gemein.
Lahl: Das stimmt, das ist nicht der Idealfall einer wertebasierten Partnerschaft. Aber die Türkei war auch schon Mitglied, als sie in den 1960er- bis 1980er-Jahren eine Militärdiktatur war – genau wie übrigens Griechenland und Portugal in dieser Zeit. So drückt man eben aus Gründen des strategischen Eigeninteresses auch mal das eine oder andere Auge zu.

„Ausrüstungsdefizite bestehen, salopp gesagt, bei allem, was fliegt und schwimmt“

BSZ: Mal angenommen, die USA ziehen sich, wie von Trump angedroht, aus Europa zurück – wären die europäischen Länder militärisch in der Lage, einen Angriff Russlands abzuwehren?
Lahl: Ich sehe keinen vernünftigen Grund, warum Russland das Gebiet der Europäischen Union auf breiter Front angreifen sollte. Die Gefahr eines begrenzten militärischen Konflikts ist allerdings real, beispielsweise für die baltischen Staaten. Russland betrachtet diese Länder wie alle ehemaligen Sowjetrepubliken noch immer als Teil seiner Einflusssphäre – vor allem da, wo es starke russisch-stämmige Minderheiten gibt. Das Risiko einer Eskalation, gewollt oder ungewollt, ist dort nicht zu unterschätzen.

BSZ: Ein Angriff Russlands auf Estland oder Lettland wäre dann aber ganz klar der Bündnisfall?
Lahl: Ohne jeden Zweifel. Und dessen ist man sich bei der Nato auch durchaus bewusst. Deshalb finden ja nun große Manöver an der nordöstlichen Außengrenze der Allianz statt. Die zur Verteidigung erforderlichen Fähigkeiten müssen aber erst mühsam wieder aufgebaut werden – da ist in den vergangenen Jahren vieles verloren gegangen. Ich glaube aber übrigens nicht, dass Trump die US-Truppen aus Europa abziehen wird. Er würde damit den globalen Einfluss der USA aufs Spiel setzen. Was er möchte, ist, die Europäer zu verunsichern und vielleicht auch zu spalten, damit er einen besseren ökonomischen Deal rausholen kann.

BSZ: Das spielt auf die vom US-Präsidenten erhobene Forderung an, dass die Mitgliedsländer der Nato alle mindestens zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Verteidigung ausgeben sollen. Wird das Deutschland jemals schaffen?
Lahl: Zunächst ist Trump darin recht zu geben, dass es innerhalb der Nato eine faire Lastenteilung geben muss. Aber: Ich rechne eher nicht damit, dass Deutschland jemals das Ziel von zwei Prozent erreicht. Und das muss es aus mehreren Gründen auch nicht. So macht es aus meiner Sicht wenig Sinn, die Verteidigungsausgaben an die jeweilige nationale Wirtschaftskraft zu koppeln. Dann wäre ja Griechenland der Musterschüler. Ich finde auch, dass die heutige Sicherheitsvorsorge ein weit über rein militärische Aspekte hinausgehendes Spektrum abdeckt, da dürfen durchaus auch Kosten für Diplomatie oder Entwicklungshilfe einfließen. Und schließlich: Viel wichtiger als das Zwei-Prozent-Ziel wäre eine überzeugende Strategie der Nato und auch der deutschen Sicherheitspolitik. Die konkreten Aufgaben müssen erst klar priorisiert werden – und dann kann man über Geld reden

BSZ: Trotzdem gehen Putins Provokationen weiter. Seine U-Boote dringen in norwegische und britische Hoheitsgewässer ein, seine Flugzeuge in den baltischen Luftraum. Was verspricht sich der russische Präsident davon?
Lahl:  Andere als militärische Nadelstiche kann er ja nicht setzen, wirtschaftlich hat er kaum die nötigen Mittel. Er will mit seinem wohldosierten Muskelspiel aber signalisieren, dass Russland weiterhin ein globaler Akteur auf Augenhöhe ist. Damit stärkt er nebenbei auch seine Macht in Russland selbst, indem er ablenkt von inneren Problemen. Aber noch mal: Ich gehe nicht davon aus, dass ein Rationalist wie Putin Absichten einer offenen militärischen Aggression gegenüber Europa hat. Denn auch wenn die russische Armee technisch teilweise sehr gut ausgerüstet ist, hat sie bei Weitem nicht die Schlagkraft der Roten Armee zu Zeiten der Sowjetunion. Die russischen Verteidigungsausgaben betragen heute allenfalls rund zehn Prozent der amerikanischen. Allerdings: Putin investiert viel in sogenannte hybride Fähigkeiten wie etwa Cyberangriffe, die in begrenzten regionalen Konflikten Vorteile versprechen. Das irritiert.

BSZ: Noch mal zurück zur Bundeswehr: Würde die von Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) ins Spiel gebrachte allgemeine Dienstpflicht etwas bewirken – immerhin könne man diese ja auch beim Militär ableisten?
Lahl: Aus gesellschaftspolitischer Sicht halte ich eine allgemeine Dienstpflicht für eine gute Sache. Konkret der Bundeswehr würde die Wehrpflicht aber eher nicht viel bringen – wenn man mal von der höheren öffentlichen Wahrnehmung und der besseren Rekrutierung neuer Zeit- und Berufssoldaten absieht. Für die heutigen militärischen Aufgaben braucht man Profis, da helfen Wehrpflichtige mit einer nur kurzen Dienstzeit kaum, sondern erfordern im Gegenteil einen hohen Aufwand an Ausbildung, Kasernen und Ausrüstung – und damit auch zusätzlichem Geld, das dann an anderer Stelle fehlt. (Interview: André Paul)

(Bild: Kersten Lahl (71) war in seiner aktiven Zeit auch Oberkommandierender der Bundeswehr in Bayern. Er lebt in Prien am Chiemsee. Foto: BSZ)

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