Politik

Apothekenpflichtige Medikamente (wie hier auf dem Foto) müssen Patienten sogar komplett aus eigener Tasche zahlen. (Foto: dpa/Klaus Rose)

04.04.2019

"Die nehmen nur die halbe Dosis"

Patienten müssen immer höhere Summen für Medikamente und Heilmittel hinzuzahlen – mit fatalen Folgen

Für Martin N. sind sie jeden Monat eine spürbare Belastung: die Zuzahlungen für seine zahlreichen Medikamente sowie medizinische Hilfsmittel wie etwa Verbandsmaterial. Auf einen hohen zweistelligen Euro-Betrag im Monat summieren sich für den pflegebedürftigen Ruheständler die Kosten, die seine gesetzliche Krankenkasse nicht übernimmt. Er leidet unter anderem unter Bluthochdruck und Schwindelanfällen, braucht deshalb diverse Pillen.

Weil das Haus, in dem er lebt, aber bereits abbezahlt ist, kann sich der ehemalige einfache Verwaltungsbeamte mit seiner Pension im teuren Münchner Umland „dennoch alles leisten, was man zum Leben benötigt“, wie der 100 Jahre alte Mann sagt. Doch spricht man mit Wohlfahrtsverbänden oder Menschen, die in der Pflege arbeiten, zeigt sich schnell, dass viele andere chronisch Kranke weniger Glück haben. „Die zuletzt immens gestiegenen Zuzahlungen der Patienten für Heil- und Hilfsmittel sind für viele Menschen ein Riesenproblem“, sagt Bettina Schubarth, Sprecherin des in München beheimateten Sozialverbands VdK der Staatszeitung.

Der Trend ist eindeutig: Die Zuzahlungen von gesetzlich Krankenversicherten sind in den vergangenen zwei Jahren um 8,8 Prozent gestiegen. Zahlen der Bundesregierung zufolge, über die zuerst der Berliner Tagesspiegel berichtete, mussten Patienten im vergangenen Jahr 4,2 Milliarden Euro aus eigener Tasche bezahlen – das sind 342 Millionen Euro mehr als im Jahr 2016. Und dabei sind die enormen Kosten für Medikamente und Leistungen, bei denen die Krankenkasse keinen Cent zahlt – wie etwa viele Kopfschmerzmittel oder diverse Wundsalben –, noch nicht eingerechnet.

Vor allem Alte und chronisch Kranke leiden unter dem Negativtrend. Am deutlichsten erhöhte sich die Belastung bei den sogenannten Heil- und Hilfsmitteln, also etwa der Behandlung durch Therapeuten oder dem Kauf von Hörgeräten und Gehhilfen. Diese Zuzahlungen stiegen in nur zwei Jahren um 18,4 Prozent. Die Zahlen stammen aus einer Regierungsantwort auf eine Parlamentsanfrage der Linksfraktion im Bundestag und Rechnungsergebnissen des Bundesgesundheitsministeriums. „Zuzahlungen bestrafen diejenigen, die krank sind und die einer ärztlichen Verordnung Folge leisten“, klagt Achim Kessler, Gesundheitsexperte der Linksfraktion.

Müsse ein Kranker mit einer Mini-Rente und teurer Miete noch 40 oder 50 Euro im Monat an Zuzahlungen berappen, könne ihn das schnell überfordern, sagt auch VdK-Frau Schubarth. Gehe etwa das Hörgerät kaputt, könne es richtig teuer werden. „Manche kranken Rentnerinnen müssen wegen der gestiegenen Zusatzkosten dann darauf verzichten, wie bislang zumindest ein- oder zweimal im Monat mit einer alten Freundin einen Kaffee trinken zu gehen“, weiß Schubarth. So werde ihnen die gesellschaftliche Teilhabe verwehrt.

Nicht selten kämen Menschen zum VdK, die wegen der Zuzahlungen nicht mehr weiterwüssten. „Es gibt Betroffene, die dann das verschriebene Medikament nur noch jeden zweiten Tag oder nur mehr die halbe Dosis nehmen, weil sie es sich schlicht nicht leisten können“, berichtet sie.

Der VdK spricht von einem Skandal. Der Sprecherin zufolge könnten auch längere Krankenhausaufenthalte wegen der dann in der Regel fälligen Eigenbeteiligung, schnell ein Loch in die Haushaltskasse der Patienten reißen. Im vergangenen Jahr mussten die Deutschen allein für Klinikbehandlungen 694 Millionen Euro hinzuzahlen.

Für die CSU ist das Thema ein heißes Eisen

Bundesweit sind Millionen Menschen betroffen – exakte Erhebungen fehlen allerdings. Fünf bis zehn Euro müssen gesetzlich Versicherte pro Medikamentenpackung hinzuzahlen. Kinder sind befreit, für Erwachsene gibt es eine Belastungsgrenze: Sie liegt bei zwei Prozent des Bruttoeinkommens, für chronisch Kranke bei einem Prozent. In diese Kalkulation fließen jedoch auch der Eigenanteil für Klinikbehandlung und Zuzahlungen für Heilmittel und häusliche Krankenpflege ein.

Zudem scheuten manche Älteren die Bürokratie, einen solchen Antrag zu stellen, so Schubarth. „Und andere machen das aus Scham nicht. Die sagen: Ich habe nie etwas vom Staat genommen.“ Diese Menschen litten lieber. Überdies kann wirklich Arme bereits eine Belastung von ein oder zwei Prozent des Brutto-Einkommens vor große Probleme stellen.

Die Linke fordert deshalb die Abschaffung der Zuzahlung. Diese würden vor allem sozial Schwache treffen, argumentiert die Partei.

Für die CSU ist das Thema ein heißes Eisen. Denn einerseits sieht man sich als Partei der mittelständischen Betriebe – und die leiden unter hohen Sozialabgaben besonders. Würde die Bundesregierung die Zuzahlungen jedoch abschaffen, würden zumindest mittelfristig die Krankenkassenbeiträge spürbar steigen. Anderseits sieht sich die bayerische Staatspartei auch als soziale und christliche Stimme. Zudem sind viele der von den Zuzahlungen besonders Betroffenen alte Menschen – und die wählen zu einem deutlich größeren Anteil die Union als andere Altersgruppen. Das CSU-geführte bayerische Gesundheitsministerium ließ eine Anfrage der Staatszeitung hierzu vom Mittwoch bis Redaktionsschluss jedenfalls unbeantwortet.

Klar ist Experten zufolge allerdings: Die Zuzahlungen werden auch in den kommenden Jahren aufgrund teurer werdender Medikamente und steigender Honorare für Physiotherapeuten weiterhin rasant steigen, wenn die Politik nicht eingreift – doch danach sieht es derzeit nicht aus. (Tobias Lill)

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