Politik

14.05.2010

Ein unbegreifliches Massaker

Vor einem Jahr erschoss die Polizei den Studenten Tennessee Eisenberg – mit zwölf Kugeln

„Obwohl Eisenberg in dieser Position von mehreren Schüssen verletzt wurde, zeigte er erneut keine Reaktion. Er drehte sich vielmehr nun zu den Schützen hin und bewegte sich dann – das Messer immer noch drohend in der Hand haltend – unmittelbar auf diese Beamten zu.“ Nein, das ist kein Zitat aus dem Drehbuch eines besonders rätselhaften Tatorts. Das ist eine Passage der Erklärung der Regensburger Staatsanwaltschaft zur Einstellung der Ermittlungen „gegen zwei Regensburger Polizeibeamte wegen Totschlags im Zusammenhang mit einem tödlich endenden Schusswaffengebrauch zum Nachteil des 24-jährigen Musikschülers Tennessee Eisenberg“. Dieser tödlich endende Schusswaffengebrauch ist gerade einmal ein Jahr her. Ein Dutzend Beamte stürmte das kleine Haus im Regensburger Stadtteil Steinweg, in dem der Student Tennessee Eisenberg mit einem Küchenmesser herumfuchtelte. Ein von Eisenberg bedrohter Mitbewohner hatte diesen mit bloßen Händen abgewehrt und sich längst in Sicherheit gebracht. Nur die von ihm alarmierten Polizisten wussten sich nicht anders zu helfen, als den 24-Jährigen mit zwölf Schüssen zu töten. Der Fall beschäftigte den Landtag, stieß selbst bei Innenminister Joachim Herrmann (CSU) ansatzweise auf Befremden und führte unter anderem zum Rückzug des Kabarettisten Michael Lerchenberg als Nockherbergredner, der die bayerischen Polizisten bei seiner kürzlichen Nockherbergpredigt süffisant dafür belobigte, dass sie zumindest beim Schusswaffengebrauch die schnellsten seien. Was bei Lerchenberg Kabarett und Sarkasmus war, das war bei Peter Paul Gantzer blutiger Ernst: Der Ex-Vizepräsident des Landtags und langjährige sicherheitspolitische Sprecher der SPD machte sich Sorgen, dass die von der bayerischen Polizei verwendete Neun-Millimeter-Munition nicht die nötige „mannstoppende Wirkung“ habe (die Staatszeitung berichtete). Während der CSU-Innenminister und die Regierungsfraktionen trotz aller Solidaritätsbekundungen mit der Polizei durchblicken ließen, dass sie den gewaltsamen Tod des Studenten keineswegs für unvermeidlich hielten, zog die SPD aus dem makabren Geschehen den messerscharfen Schluss, die Polizei müsse aufgerüstet werden. Dem Regensburger Leitenden Oberstaatsanwalt Günther Ruckdäschel wiederum, der schon auf Notwehr (bzw. Nothilfe) erkannt hatte, als Eisenberg noch nicht kalt war, wurde zuerst ein Pressesprecher zur Seite gestellt, bevor er nun zum Präsidenten des Regensburger Landgerichts befördert wurde. Andreas Tronicsek, einer der drei Anwälte, die die Hinterbliebenen vertreten, stößt sich vor allem an der Einsetzung des Pressesprechers: „Aus dem ganzen Desaster wurde nicht die Konsequenz gezogen, dass in Zukunft besser ermittelt werden muss, sondern dass die Ermittlungen bzw. deren Einstellung besser verkauft werden müssen.“ Nachdem auch die Beschwerde bei der Generalstaatsanwaltschaft Nürnberg gegen die Einstellung des Ermittlungsverfahrens abgelehnt wurde, hat Tronicsek zusammen mit seinem Kollegen von Kietzell nun ein Klageerzwingungsverfahren beim Oberlandesgericht Nürnberg beantragt. Immerhin, so Tronicsek, seien nun erstmals Richter mit dem Fall befasst. Das war auch die Hauptforderung auf einer Kundgebung zum ersten Jahrestag. Roland Weisser, promovierter Chemiker, zog in einer fulminanten Rede einen Vergleich zur Kinderschändung innerhalb der katholischen Kirche. An die Adresse von Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), die gegenüber der Kirche auf dem Vorrang externer, sprich: staatlicher Ermittler beharrt, sagte Weisser: „Aber Vollzugsbeamte des Staates dürfen nach wie vor gegen ihre eigenen Kollegen ermitteln, ohne dass es eine außenstehende Kontrollinstanz gibt!“ Die Forderung nach einer unabhängigen Ermittlungsinstanz, so Weisser, erhebe auch der Menschenrechtskommissar des Europarates. Am schlechtesten kam Landesjustizministerin Beate Merk (CSU) weg, die gesagt hatte, sie sehe „keinen Anlass zur Skepsis“ gegenüber der Arbeit der Staatsanwaltschaft. Weisser hielt dem entgegen, dass „selbst im US-amerikanischen Human-Rights-Watch-Bericht der Fall Eisenberg als möglicher Verstoß gegen die Menschenrechte aufgelistet wird“. Unter langanhaltendem Beifall von 400 Zuhörern schloss Weisser seine Rede mit der Aufforderung an Merk: „Ihr Verhalten und Versagen in diesem Fall zeigt uns, dass wir von Ihnen gar nichts mehr zu erwarten haben und daher nur eines fordern können: Ihren Rücktritt!“ (Florian Sendtner)

Kommentare (0)

Es sind noch keine Kommentare vorhanden!
Die Frage der Woche

Ist das geplante Demokratiefördergesetz sinnvoll?

Unser Pro und Contra jede Woche neu
Diskutieren Sie mit!

Die Frage der Woche – Archiv
Vergabeplattform
Vergabeplattform

Staatsanzeiger eServices
die Vergabeplattform für öffentliche
Ausschreibungen und Aufträge Ausschreiber Bewerber

Jahresbeilage 2023

Nächster Erscheinungstermin:
29. November 2024

Weitere Infos unter Tel. 089 / 29 01 42 54 /56
oder
per Mail an anzeigen@bsz.de

Download der aktuellen Ausgabe vom 24.11.2023 (PDF, 19 MB)

E-Paper
Unser Bayern

Die kunst- und kulturhistorische Beilage der Bayerischen Staatszeitung

Abo Anmeldung

Passwort vergessen?

Geben Sie Ihren Benutzernamen oder Ihre E-Mail ein um Ihr Passwort zurückzusetzen. Bei Fragen wenden Sie sich bitte an: vertrieb(at)bsz.de

Zurück zum Anmeldeformular 

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.

Abo Anmeldung

Passwort vergessen?

Geben Sie Ihren Benutzernamen oder Ihre E-Mail ein um Ihr Passwort zurückzusetzen. Bei Fragen wenden Sie sich bitte an: vertrieb(at)bsz.de

Zurück zum Anmeldeformular 

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.