Politik

Kundgebung in Berlin anlässlich des Mordes an Walter Lübcke. (Foto: dpa/Christoph Soeder)

21.06.2019

Erst Migranten, jetzt Politiker

Ein Jahr nach dem NSU-Urteil: Experten ziehen erschreckende Parallelen zum Mord an dem hessischen Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU)

Ein Jahr nach dem NSU-Urteil – wo stehen wir heute?“ Als das Pressegespräch des Mediendienst Integration aus Berlin im Münchner Rathaus vorbereitet wurde, konnte niemand ahnen, dass es durch den Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) solche Brisanz bekommen sollte. Denn die drei geladenen Referenten sahen klare Parallelen zwischen dem Terror des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), dessen Blutspur quer durch Bayern ging (zwei Mordopfer in München, drei in Nürnberg), und dem jetzigen Mord an dem hessischen CDU-Politiker, der sich für Flüchtlinge starkgemacht hatte.

Erinnert sich noch wer an den NSU-Prozess? An das Mammut-Strafverfahren gegen Beate Zschäpe und vier Mitangeklagte, das sich vor dem Münchner Oberlandesgericht fünf Jahre lang hinzog? Und das zumeist unter den Gesichtspunkten: „Wie lange dauert das denn noch?“ und „Wie viel kostet das?“ abgehandelt wurde?

Die Öffentlichkeit interessierte schon während des Prozesses wenig, worum es da ging: um eine Mordserie, begangen von Neonazis; die Opfer waren acht Türken, ein Grieche, eine Polizistin. Und zwei Dutzend Schwerverletzte – unter anderem Opfer zweier Bombenanschläge, gezielt gerichtet gegen Türken und Iraner in Köln. Von den vielen Dutzend Traumatisierten zu schweigen: den Angehörigen der Mordopfer, die jahrelang selbst von der Polizei verdächtigt wurden, weil die Spuren in Richtung Neonazis jahrelang konsequent ignoriert wurden.

Eine hinrichtungsartige Tat – auch das weckt böse Erinnerungen

Und nun der Mord an dem nordhessischen Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) Anfang Juni. Der wegen dringenden Tatverdachts in U-Haft sitzende 45-Jährige passt in mehrfacher Hinsicht ins NSU-Schema, wie Antonia von der Behrens erläuterte. Die Berliner Rechtsanwältin hatte im NSU-Prozess die Hinterbliebenen von Mehmet Kubasik vertreten. Nicht nur, dass es auch im Fall Lübcke – wie bei der NSU-Terrorserie – kein Bekennerschreiben gab, die Tat also für sich selbst sprechen sollte. Auch die Ermittlungen gingen anfangs genau in die falsche, nämlich in die private Richtung. Und das, obwohl Lübcke bereits vor Jahren Morddrohungen erhalten hatte, nachdem er sich im Herbst 2015 für einen menschlichen Umgang mit Flüchtlingen ausgesprochen hatte.

Antonia von der Behrens verwies zudem darauf, dass der aufgrund einer DNA-Spur auf der Leiche dringend Tatverdächtige im Fall Lübcke auch vom Jahrgang (1973) her der „Generation NSU“ angehöre. Und wie das NSU-Trio und seine Helfershelfer begann auch der Mordverdächtige von Kassel bereits in den 90er- Jahren mit seinen Gewalttaten.

Der Soziologe Matthias Quent, Leiter des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena, nannte die (ebenfalls wie bei der NSU-Mordserie) hinrichtungsartig vollzogene Tat von Kassel eine Zäsur: Zum ersten Mal seit 1945 sei der Mordanschlag eines Neonazis auf einen regierenden Politiker erfolgreich gewesen.

Während der Angriff auf den Staat im Fall Lübcke schlicht nicht mehr zu übersehen oder zu leugnen sei, so Antonia von der Behrens, habe sie während des gesamten NSU-Prozesses „nicht das Gefühl gehabt, dass der Staat sich vom NSU angegriffen fühlte“. Vielmehr habe sich der Staat „von den Nebenklägern angegriffen gefühlt“. Und das, obwohl unter den Mordopfern des NSU immerhin die Polizistin Michèle Kiesewetter gewesen sei, deren Kollege den Mordanschlag nur durch ein Wunder überlebte.

Mitat Özdemir, der für die Kölner Keupstraße sprach, wo der NSU am 9. Juni 2004 seinen größten Bombenanschlag mit zwei Dutzend Schwerverletzten beging, brachte es so auf den Punkt: „Man hat mit uns angefangen.“ Der Neonaziterror habe zuerst die Migranten getroffen, doch nun ziele er auch auf Politiker. „Man begreift noch immer nicht, was hier los ist.“ Zu den Begegnungsfesten in der Keupstraße kämen 150 000 Leute, doch die Neonazis ließen nicht locker. Im Vorfeld des 15. Jahrestags des Nagelbombenanschlags vor wenigen Tagen seien erneut Drohbriefe eingegangen mit der Aufforderung, Deutschland zu verlassen. „Man sollte unsere Sorgen erst mal ernst nehmen“, forderte Özdemir, der seit 50 Jahren in Deutschland lebt, Vorsitzender der „Interessengemeinschaft Keupstraße“ war und Mitgründer der Initiative „Keupstraße ist überall“ ist.

Bundeskanzlerin Angela Merkel habe den Hinterbliebenen 2012 umfassende Aufklärung versprochen, so Özdemir, doch dann sei die Anklage vor dem Münchner Oberlandesgericht auf fünf Personen begrenzt worden, obwohl klar sei, dass das Terrornetzwerk des NSU viel umfangreicher gewesen sein muss. „Ich war schon von Anfang an enttäuscht.“

Matthias Quent kann das als Wissenschaftler nachvollziehen. 2011, nach der Selbstenttarnung des NSU, habe man „durchaus die Hoffnung hegen können“, dass der Naziterror nun entscheidend geschwächt würde. Doch heute, acht Jahre später, stünden die Nazis gestärkt da, wie man beispielsweise an den hämischen Facebook-Kommentaren nach dem Mord an Walter Lübcke gesehen habe. Nach wie vor fühlten sich Naziterroristen als „Vollstrecker einer Mehrheitsmeinung“.

Von ihrer Mandantin Elif Kubasik, der Witwe des in Dortmund vom NSU ermordeten Mehmet Kubasik, berichtete Antonia von der Behrens, sie sei „schlicht erleichtert, nicht mehr zum Prozess nach München fahren zu müssen“; denn sie sei oft anschließend krank gewesen. Aber sie habe das Gefühl gehabt, sie sei es ihrem ermordeten Ehemann schuldig, beim Prozess anwesend zu sein. „Ihre Fassungslosigkeit und ihre Wut über das Urteil sind aber immer noch gleich.“ Der Applaus der Neonazis auf der Zuhörertribüne angesichts des unerwartet milden Urteils für die Mitangeklagten Ralf Wohlleben, André Eminger und Holger Gerlach sei für Elif Kubasik unerträglich gewesen, sie habe den Gerichtssaal verlassen.

Der NSU-Prozess hatte leider keine abschreckende Wirkung auf Neonazis

Der ganze NSU-Prozess, so Antonia von der Behrens, habe keine abschreckende Wirkung auf die Neonazis gehabt; die Neonaziszene sei gestärkt aus ihm hervorgegangen. Über 40 Neonazis seien in dem Prozess als Zeugen aufgetreten, kein einziger habe eingeschüchtert gewirkt, fast alle hätten dreist gelogen und seien dafür bis dato nicht belangt worden. Der Mord an Mehmet Kubasik sei „rein technisch abgehandelt“, der NSU als abgeschottete Dreierzelle behandelt worden.

Das für dieses Gericht und diese Art Strafverfahren untypisch milde Urteil sei für die Hinterbliebenen „ein Schlag ins Gesicht“ gewesen. Im Übrigen warte man ein Jahr nach der Urteilsverkündung nach wie vor auf die schriftliche Urteilsbegründung, die jeden Tag vorgelegt werden könne, spätestens aber Ende April 2020 vorliegen müsse. (Florian Sendtner)

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