Politik

Ernst Grube engagiert sich noch immer politisch. (Foto: Dominik Baur)

11.11.2019

"Es wird zu wenig getan gegen rechte Gewalt"

Der Holocaust-Überlebende Ernst Grube über Judenverfolgung, Rechtsextremismus und seine Angst davor, dass sich Dinge wiederholen

Die Nazis verfolgten Ernst Grube (86), weil er Jude war; die Bundesrepublik verfolgte ihn, weil er Kommunist war. Wenn Rechtsextreme heute morden, erschüttert ihn das. Der gebürtige Münchner ist noch immer politisch aktiv, meldet sich zu Wort, wenn es etwa um Seenotrettung, Polizeiaufgabengesetz oder Erinnerungskultur geht. Mehrmals im Monat besucht der Holocaust-Überlebende Schulklassen und erzählt seine Lebensgeschichte.

BSZ Herr Grube, in Halle hat ein Nazi versucht, ein Massaker in einer Synagoge anzurichten. Wie geht es Ihnen, wenn Sie so eine Nachricht hören?
Ernst Grube Natürlich ist mir das sehr nahegegangen. Es sind auch sofort persönliche Erinnerungen hochgekommen – an einen großen Teil meiner Familie, der von den Nazis umgebracht worden ist. Ich hätte mir früher nicht vorstellen können, dass wieder eine Zeit kommt, wo rechtsextreme Propaganda und die Verletzung von Menschenrechten zum Alltag gehören. Aber inzwischen überrascht es mich nicht mehr. Wir sehen diese Entwicklung ja schon seit Jahren. Es wird nur immer deutlicher, dass zu wenig gegen die rechte Gewalt getan wird. Aber wir Juden und Bedrohten müssen aufpassen, dass wir uns jetzt nicht in eine Opferrolle drängen lassen. Stattdessen müssen wir fragen: Wie ist es möglich, dass sich heute die Dinge – wenn auch noch in anderer Form – wiederholen?

BSZ Haben Sie selbst eine Antwort darauf?
Grube Ich glaube, wir können da sehr weit zurückgehen. Das fing damit an, dass nach 1945 die wesentlichen ideologischen Grundvorstellungen der Nazis in vielen Bereichen erst mal fortbestanden: Der Antikommunismus wurde weiter gepflegt, Nazis wurden wieder in ihre alten Funktionen gebracht,

BSZ
Wann haben Sie zum ersten Mal gemerkt, dass Sie in einem Land leben, in dem Sie auf der Hut sein müssen?
Grube Da war ich fünf Jahre alt, wir haben in München in einem Haus gewohnt, das der jüdischen Gemeinde gehört hat – gleich neben der Hauptsynagoge. 1938 haben die Nazis dann die Synagoge zerstört, die Häuser rundherum im Rahmen der sogenannten Arisierung beschlagnahmt und den Mietern gekündigt. Als meine Eltern die Wohnung nicht verlassen haben, weil sie so schnell keine Unterkunft fanden, wurde uns Wasser, Gas und Strom gesperrt. Und weil sie nicht wussten, wohin mit uns, gaben sie meinen Bruder, meine Schwester und mich in ein jüdisches Kinderheim. Dort hatten wir es sehr gut –  auch wenn wir draußen von den Nachbarskindern angepöbelt wurden und später ja auch noch der Stern dazukam, den wir tragen mussten.

„Ist es möglich, dass sich Dinge – wenn auch in anderer Form – wiederholen?“

BSZ 1941 ist die Hälfte der Kinder dieses Heims deportiert worden.
Grube Ich erinnere mich vor allem an die Verzweiflung, die Tränen. Ich sehe uns da noch im ersten Stock stehen, die Freunde, die deportiert werden sollten, bekamen noch ein Lunchpaket. Und wir haben gespürt: Unsere Gemeinschaft ist jetzt zerstört. Das war der Punkt, wo mir die Härte des Nazi-Regimes zum ersten Mal wirklich bewusst wurde. Und natürlich haben wir uns gefragt: Werden wir uns wiedersehen?

BSZ Die Kinder wurden nur fünf Tage später erschossen.
Grube Das haben wir aber erst nach dem Krieg erfahren. Im Frühjahr 1942 gab es dann einen weiteren Transport, und dann wurde das Kinderheim aufgelöst. Zum Schluss – wir waren noch zwölf von 46 Kindern – kamen wir in ein Barackenlager im Stadtteil Milbertshofen. Da habe ich gesehen, wie Menschen gequält wurden. Ich erinnere mich noch an ein altes Kesselhaus auf dem Gelände. Dort haben die Nazis verzweifelte alte Menschen eingesperrt; die hingen an den vergitterten Fenstern und haben geschrien und gejammert. Später kamen wir noch in ein anderes Lager, bevor wir im März 1943 wieder zu den Eltern in eine Zweizimmerwohnung durften.

BSZ Hatten Sie zu dieser Zeit Hoffnung?
Grube Unsere Hoffnung war, dass die Deutschen den Krieg schnell genug verlieren würden. Da wir heimlich Radio Moskau gehört haben, wussten wir, dass die Wehrmacht auf dem Rückzug war. Es waren aber vor allem zwei Dinge, die uns in dieser Zeit beschäftigt haben: Das eine war das Schicksal von den Schwestern unserer Mutter, die mit ihren Männern und Kindern deportiert worden waren. Wir mussten annehmen, dass sie umgebracht wurden, was dann auch stimmte. Das andere war die Frage, wie es mit uns selbst weitergehen würde, ob der Schutz durch den Vater ausreichen würde.

BSZ Im Februar 1945 wurden Sie auch deportiert.
Grube Meine Mutter sollte sich mit uns Kindern „zwecks Arbeitseinsatz“ bei der Gestapozentrale einfinden. Für uns war natürlich klar, dass wir in ein Lager gebracht werden sollten. Und wir dachten, dass wir nicht mehr zurückkommen würden. Wir wurden dann nach Theresienstadt gebracht, wo man uns erst mal alles weggenommen und dann jeden von der Familie woanders untergebracht hat. Ich war in einem Zimmer mit zehn anderen Jungen. Abends sind wir meistens zusammengesessen und haben über unsere Situation geredet. Was haben die Nazis mit uns vor? Was werden sie jetzt noch kurz vor Kriegsende machen?

BSZ Zum Glück war Auschwitz zu der Zeit schon befreit, wohin es von Theresienstadt aus sonst üblicherweise weiterging.
Grube Ja, nur deshalb haben wir überlebt. Und weil wir erst so spät deportiert wurden, haben wir die allerschlimmste Zeit in dem Lager nicht mehr miterlebt. Wir hatten natürlich schon große Angst, aber gleichzeitig war da auch Hoffnung.

BSZ Wie erinnern Sie sich an den Moment der Befreiung?
grube Am 8. Mai rief plötzlich jemand: Die Russen sind da. Und alle liefen zum Tor. Ich kann mich erinnern, dass ich auf so einen Wagen aufgesprungen bin und einen Rotarmisten umarmt habe.

BSZ Nach dem Krieg schlossen Sie sich der FDJ an. Warum?
Grube Natürlich war ich vorgeprägt, meine Eltern waren ja auch Kommunisten. Aber dann habe ich meine spätere Frau kennengelernt, die damals schon in der FDJ war. Über sie kam dann auch ich in die Organisation. Und als Malerlehrling habe ich mich etwas später in der Gewerkschaftsjugend engagiert. Eine große Rolle für meine Politisierung hat aber auch der Widerstand gegen die Remilitarisierung Deutschlands gespielt. Da sollte also eine neue Armee aufgebaut werden – und mit wem? Mit Hans Speidel, mit Adolf Heusinger, also all diesen Generälen, die den faschistischen Krieg geführt haben. Die es ermöglicht haben, dass wir Juden verfolgt, meine Tanten und Onkel umgebracht wurden.

„Ich werde noch immer vom Verfassungsschutz beobachtet“

BSZ Und dann gerieten Sie in den Fünfzigern erneut ins Visier des Staates, diesmal der Bundesrepublik.
Grube Es war absurd. Die Nazis haben mich schon verhaftet, und dann passiert dasselbe in der Republik Adenauers. Ich musste 1954 ins Gefängnis, nachdem ich an einer Demonstration teilgenommen hatte. Es ging um Ladenschlusszeiten am Samstag, damals eine große Sache in München; über Wochen haben Zigtausende demonstriert. Und bei einer solchen Veranstaltung reitet ein Polizist auf mich zu, schwingt den Knüppel und haut auf mich ein. Dann wurde ich verhaftet – wegen „Widerstands gegen die Staatsgewalt“. In der Verhandlung habe ich dann sieben Monate bekommen. Und das war noch harmlos im Vergleich zu meinem zweiten Gefängnisaufenthalt.

BSZ Was war da?
Grube Da bin ich 1958 wegen illegaler Arbeit in der KPD verurteilt worden. Die war ja 1956 verboten worden. Und wir, sechs ehemalige KZ-Häftlinge, wollten mit einer Flugblattaktion in der Münchner Innenstadt Material der KPD verteilen, sind aber von einem Spitzel verraten worden. Und da standen wir nun am Bundesgerichtshof in Karlsruhe vor diesen Richtern, die alle schon unter den Nazis Richter waren, und wurden zu ein bis zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Ich selbst bekam ein Jahr, wurde aber freigelassen, nachdem ich schon neun Monate in Untersuchungshaft gesessen hatte – vier Monate davon in Bonn in absoluter Isolationshaft. Meine Zelle war einen Meter breit, da passte gerade mal ein Bett hinein.

BSZ Stimmt es, dass Sie bis heute vom Verfassungsschutz beobachtet werden?
Grube Ja. Ich bin Mitglied der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), und diese Organisation wird vom Verfassungsschutz beobachtet unter dem Vorwand, es würde ein linksextremistischer Einfluss unter anderem durch mich ausgeübt und die VVN würde auf eine Beseitigung demokratischer Verhältnisse hinarbeiten. Dabei hat sich die VVN lediglich zum Ziel gesetzt, das Wiederaufleben des Faschismus zu verhindern und die KZ-Überlebenden in ihrer neuen Lebenswelt zu unterstützen. 2011 wurde ich sogar namentlich im Verfassungsschutzbericht genannt. Sie müssen sich das mal vorstellen: Ich wirke in vielen Organisationen und Gremien mit, die sich mit Erinnerung beschäftigen, oftmals bin ich dort im Vorstand, bin Vorsitzender der Lagergemeinschaft Dachau. Und ich bin gewählter Vorsitzender des Kuratoriums der Stiftung Bayerische Gedenkstätte, einer staatlichen Einrichtung. Und gleichzeitig sieht dieser Staat einen Verfassungsfeind in mir.

BSZ Als Kommunist würden Sie sich aber schon noch bezeichnen?
Grube Ich bin Kommunist, aber nicht in einem starren doktrinären Sinne. Ich bin zwar für eine neue Gesellschaft, in der es wirkliche Freiheit gibt und in der nicht das Kapital die Richtung vorgibt, aber ich habe kein Problem damit, wenn andere das anders sehen. Mir sind die Brücken zu anderen Menschen sehr wichtig. Da spielt die Parteizugehörigkeit erst mal keine Rolle.
(Interview: Dominik Baur)

Kommentare (0)

Es sind noch keine Kommentare vorhanden!
Die Frage der Woche
Vergabeplattform
Vergabeplattform

Staatsanzeiger eServices
die Vergabeplattform für öffentliche
Ausschreibungen und Aufträge Ausschreiber Bewerber

Jahresbeilage 2023

Nächster Erscheinungstermin:
29. November 2024

Weitere Infos unter Tel. 089 / 29 01 42 54 /56
oder
per Mail an anzeigen@bsz.de

Download der aktuellen Ausgabe vom 24.11.2023 (PDF, 19 MB)

E-Paper
Unser Bayern

Die kunst- und kulturhistorische Beilage der Bayerischen Staatszeitung

Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.

Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.