Politik

Glücklich, wer in Zirndorf ein solches Zimmer hat. Andere müssen auf Feldbetten in Lkw-Garagen schlafen. (Foto: dpa)

14.08.2014

Flüchtlingspolitik im Schneckentempo

Sozialministerin Emilia Müller gibt neue Erstaufnahme-Standorte bekannt - wann sie fertig sind, ist aber offen

Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg waren so viele Menschen auf der Flucht. Die Zahl der Kriegsflüchtlinge, Vertriebenen und Verfolgten stieg laut Vereinten Nationen bis Ende letzten Jahres auf über 50 Millionen Menschen. Dies hat auch Auswirkungen auf Deutschland: Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) rechnet 2014 bundesweit mit bis zu 200  000 Asylbewerbern – doppelt so viele wie im letzten Jahr. Der Freistaat soll 30 000 von ihnen aufnehmen, die meisten aus Russland, Afghanistan und Syrien. „Um die Asylbewerber menschlich unterbringen zu können, haben wir im Ministerrat Anfang April diesen Jahres beschlossen, in jedem Regierungsbezirk eine Erstaufnahmeeinrichtungen zu schaffen“, erklärte Sozialministerin Emilia Müller. Ursprünglich sollten die sieben Standorte bis Ende Juli feststehen. Diese Woche kündigte Müller nach Deggendorf und Regensburg die fünfte Unterkunft in der Bayreuther Herzogmühle an.
Die zwei bereits existierenden Erstaufnahmeeinrichtungen sind seit Jahren überbelegt. In Zirndorf sind aktuell 900 statt 650, in München 2000 statt 1400 Menschen untergebracht. In der Folge müssen sie in Containern, Garagen oder Zelten ohne ausreichenden Brandschutz schlafen. Obwohl viele von der monatelangen Flucht krank sind, gibt es nur wenig Ärzte. Ebenso fehlen Dolmetscher, Wachleute und Jugendhelfer für Minderjährige. Die Caritas kann mangels staatlicher Unterstützung noch nicht einmal jedem der oft traumatisierten Kinder einen Platz in ihrem Flüchtlingskindergarten anbieten. Selbst die Berater sind völlig überlastet: „Derzeit kommt eine Kraft auf bis zu 400 Flüchtlinge“, betont Gisela Thiel vom bayerischen AWO-Landesverband.

Opposition fordert auch mehr Deutschkurse

So verwundert es nicht, wenn die Sozialpolitiker der Opposition Müllers Ankündigung als längst überfällig ansehen. „Die Staatsregierung hat den Bedarf an neuen Erstaufnahmeeinrichtungen über Jahre hinweg ignoriert“, schimpft Angelika Weikert (SPD). Neben der zeitnahen Einrichtung müssten außerdem die psychiatrische Versorgung sichergestellt, das Angebot der Deutschkurse ausgeweitet und die Asylsozialberatung verbessert werden. Letzteres fordert auch Hans Jürgen Fahn (Freie Wähler): „Elementar ist aber, dass die geplanten weiteren Erstaufnahmeeinrichtungen bis Anfang 2015 in Betrieb gehen.“ Das Sozialministerium hat dies bisher nur für den Standort Deggendorf angekündigt. Für Fahn ist das „Flüchtlingspolitik im Schneckentempo“. Christine Kamm (Grüne) kritisiert die Planungspolitik Müllers ebenfalls als „zu spät, zu wenig, ungenügend“. Abschiebegefängnisse könnten hingegen innerhalb weniger Monate gebaut werden.
Nach dem Zerfall Jugoslawiens gab es in Bayern 1995 bereits acht Erstaufnahmeeinrichtungen. Warum deren Reaktivierung wie zum Beispiel in Deggendorf so lange dauert, begründet das Sozialministerium mit „größeren Umbauten“. Zur kurzfristigen Entlastung der bestehenden Standorte sollen jetzt neben neuen Gemeinschaftsunterkünften zusätzlich Dependancen mit weiteren Plätzen in Betrieb gehen. Darüber hinaus will Müller die Verweildauer in der Erstaufnahme verkürzen. Streit ist dabei vorprogrammiert, denn der Deutsche Landkreistag fordert genau das Gegenteil: „Der Bund sollte die Länder verpflichten, Asylbewerber für zumindest drei Monate in zentralen Einrichtungen unterzubringen“, so Präsident Reinhard Sager. Dadurch sei eine effizientere Abwicklung des Asylverfahrens als bei einer Verteilung auf die Landkreise möglich. Der bayerische Flüchtlingsrat verlangt hingegen, die starre Lagerpflicht ganz abzuschaffen und die Menschen in preisgünstigere Übergangswohnungen ziehen zu lassen. „Sonst werden auch die neuen Erstaufnahmeeinrichtungen nach kurzer Zeit aus allen Nähten platzen“, glaubt Flüchtlingsrat-Sprecher Alexander Thal.

Christen und Muslime trennen?


Gemeinsam mit der Opposition setzt sich der Flüchtlingsrat außerdem gegen die generelle Trennung bei der Unterbringung von Christen und Muslimen ein. Diese Maßnahme oder gar die Abschiebung hatte der Integrationsbeauftragte der Staatsregierung, Martin Neumeyer (CSU), gefordert, nachdem orientale Christen angeblich von muslimischen Flüchtlingen gemobbt wurden. Eine räumliche Trennung der Flüchtlinge hätte laut Thal zur Folge, dass Beratungen und Kurse bei Wohlfahrtsorganisationen oder Behandlungen bei Ärzten und Therapeuten abgebrochen werden müssen. FW-Politiker Fahn wiederum glaubt, dass Spannungen am besten durch eine dezentrale Unterbringung verhindert werden. Ähnlich sieht es die Grüne Kamm. Sie glaubt, dass Streit vor allem auf die räumliche Enge zurückzuführen ist. Selbst eine Sprecherin von Sozialministerin Müller betont, es gebe zwar Einzelfälle von religiöser Intoleranz, diese seien aber „nicht die Regel“.
(David Lohmann)

Kommentare (3)

  1. Loddar am 26.08.2014
    Ich korrigiere:

    - bei humanitären Katastrophen sollte es keine Grenze geben (siehe Gewissen)
    - die Einnahmen des Bundes liegen nächstes Jahr über den Ausgaben, also gar nicht (siehe Destatis)
    - die USA sind das größte Einwanderungsland der Welt (siehe OECD-Studie)
  2. Heinz am 18.08.2014
    Ich denke:

    - bei einem Lebensstandard des Flüchtlings in etwa vergleichbar einem deutschen Facharbeiter.

    - etwa 2020.

    - weil Amerikaner nur zwei Parteien wählen können und beides rechte Parteien sind.
  3. Roland am 14.08.2014
    Mir stellt sich folgende Fragen:

    Wo ist die Grenze des Sozialstaates?

    Wann bircht der Sozialstaat zusammen?

    Warum nimmt die USA keine Flüchtlinge auf?
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