Politik

Im Freistaat übernehmen vor allem die Wohlfahrtsverbände die soziale Beratung von Flüchtlingen und Migranten. (Foto: dpa)

17.08.2018

Freistaat schuldet Verbänden Millionen

Existenzbedrohende Lage der Flüchtlings- und Integrationsberatung: Wohlfahrtspflege muss auf Geld ungebührlich lang warten

Nächstes Jahr werde ich wohl einen Kredit aufnehmen müssen“, sagt Alexander Wagner. Nicht als Privatperson, sondern als Vorstand des Ortsvereins Arzberg der Arbeiterwohlfahrt (AWO). Dort unterhält er eine Stelle für Asylsozialberatung, gefördert von der Staatsregierung nach der Beratungs- und Integrationsrichtlinie (BIR). Bis zu 80 Prozent der Personalkosten übernimmt der Freistaat. Abschlagszahlungen erfolgen anders als beim Bund nicht Vierteljährlich, sondern nur zwei Mal im Jahr – Stichtag für die erste war bislang der 31. Mai. Endgültig abgerechnet wird Mitte des Folgejahres. Theoretisch. „Für 2018 habe ich noch gar kein Geld erhalten“, klagt Wagner. „Auch die Restzahlung für 2017 steht noch aus.“ Der kleine Ortsverein mit 100 Mitgliedern muss das Gehalt seiner Beraterin deshalb vorschießen. Und gerät damit an seine finanziellen Grenzen.

Ein Einzelfall? Mitnichten. Vier der fünf Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege, die die Hauptlast der Flüchtlings- und Integrationsberatung im Freistaat mit etwa 700 geförderten sogenannten Vollzeitstellenäquivalenten schultern, warten noch auf ihr Geld. Einen Millionenbetrag im zweistelligen Bereich. Einzig der Paritätische hat für seine 40 geförderten Stellen im Juli das Geld erhalten – nachdem er die zuständige Regierung von Mittelfranken mehrfach auf die schwierige finanzielle Situation vor allem der kleineren Träger hingewiesen hat. Die Rücklagen reichen für die Vorleistungen nicht, so der Verband. Ein Träger sei deshalb bereits aus dem Förderprogramm ausgestiegen. Andere prüfen, ob sie unter diesen Bedingungen 2019 ihr Beratungsangebot weiterführen können.

Zum 1. Januar 2018 wurde die Asylsozialberatung und die Migrationsberatung zur Flüchtlings- und Integrationsberatung zusammengelegt. Die Regierung von Mittelfranken begründet die verspäteten Zahlungen mit „umfangreichen Abstimmungen“. Die seien nun abgeschlossen und somit eine zeitnahe Auszahlung der ersten Abschlagszahlung geplant. Fehlende Unterlagen verzögerten hingegen die Prüfung der Verwendungsnachweise, um das Förderjahr 2017 abzuschließen, heißt es.

Freiwillige Aufgabe des Staates: "Groteske Umkehrung der Verantwortlichkeiten"

Und so schuldet der Staat Diakonie, Caritas, Bayerischem Roten Kreuz (BRK) und AWO viel Geld. „Das stellt uns vor riesige Herausforderungen“, erklärt man nicht nur bei der Diakonie. Allein sie verzeichnet Außenstände in Höhe von etwa 4,4 Millionen Euro. Dort wurde nur deshalb noch keine der rund 160 Stellen gekürzt, weil Träger vor Ort mit Mitteln der Evangelischen Landeskirche unterstützt werden können. Beim BRK hingegen haben sich bereits Kreisverbände aus der Beratung zurückgezogen. Neben den Außenständen sei auch der hohe Eigenmitteleinsatz ein Grund hierfür, heißt es. Denn zum Eigenanteil an den Personalkosten kommen Sachmittel wie Büromiete, Fortbildungs- oder Dolmetscherkosten. Dafür zahlt der Freistaat nicht. Obwohl doch die Flüchtlings- und Integrationsberatung ein unverzichtbarer Baustein für die Integration von Zuwanderern in unsere Gesellschaft ist, wie der Vize-BRK-Geschäftsführer Wolfgang Obermair betont.

Die Träger wünschen sich mehr Geld und mehr Verlässlichkeit auf allen Ebenen – auch was eine frühzeitige Zusage für die Förderung betrifft. Bislang ist die nämlich nur eine freiwillige Leistung des Freistaats. Die Verbände müssen die Stellen jedes Jahr aufs Neue beantragen. „Das mache ich spätestens im November“, erklärt Wagner von der AWO Arzberg. Die Bestätigung aber komme erst im März oder April. „Bis dahin beschäftige ich die Kraft auf eigenes Risiko – unbefristet, denn Sozialpädagogen sind Mangelware, eine befristete Stelle würde keinen interessieren.“ Immerhin: Für 2019 sichert Innenminister Joachim Herrmann zu, dass es bei der Flüchtlings- und Integrationsberatung keine Stellenkürzungen geben soll.

BRK, Paritätischer und AWO fordern eine Regelförderung der Flüchtlings- und Integrationsberatung. „Sie brauchen dauerhaft eine verlässliche Perspektive“, erklärt Margit Berndl, Vorstand Verbands- und Sozialpolitik beim Paritätischen in Bayern. „Integrationsberatung als freiwillige Aufgabe: Das ist eine groteske Umkehrung der Verantwortlichkeiten“, betont auch Thomas Beyer, Vorsitzender der AWO Bayern. Sie hat derzeit gut 37 nach BIR geförderte Stellen. „Asylbewerber befinden sich im staatlichen System, da wäre doch auch ihre Beratung eine staatliche Aufgabe“, sagt er. „So wie auch jeder Deutsche nach dem Sozialhilferecht einen Beratungsanspruch hat.“

Beyer erklärt, dass man die Aufgabe gerne erfülle, fügt aber an: Wenn sich am System nichts ändere,  weiterhin so schlecht und schleppend gezahlt werde, müsse man sich wohl doch mal überlegen, die Integrationsberatung abzugeben. „Und dann wird der Staat sehen, ob sie nicht doch seine Aufgabe ist.“ (Angelika Kahl)

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