Politik

13.07.2012

"Fremde in unserer Gesellschaft"

Psychiaterin Dorette Poland über den Plan der Gesundheitsminister, Intersexuelle vor frühen Operationen zu schützen

BSZ: Frau Dr. Poland, die Gesundheitsminister der Länder fordern von der Bundesregierung, dass Intersexuelle künftig nicht mehr im Kindesalter operiert werden dürfen. Ein kluger Vorstoß?
Poland:
Nein, denn für mich geht er in die falsche Richtung. Ich finde es nicht sinnvoll, bei einem derart hochkomplexen Thema ein Verbot welcher Art auch immer zu erlassen. Dafür ist Zweigeschlechtlichkeit von Person zu Person zu unterschiedlich. Meines Erachtens muss stets der Einzelfall bewertet werden, um keinen Schaden anzurichten. Es darf nicht darum gehen, Richtlinien dogmatisch zu befolgen.
BSZ: Was schlagen Sie stattdessen vor?
Poland: Die Gesundheitsminister sollten finanzielle Mittel für interdisziplinäre Beraterteams zur Verfügung stellen, die dann zusammen mit den Eltern schon im frühen Stadium besprechen, was für das Kind das Beste ist. Zu so einem Team gehören Geburtshelfer, Kinderendokrinologen, Chirurgen, Kinderärzte und Psychosexualtherapeuten. Außerdem wäre es gut, wenn sich die Gesundheitsminister bei den Krankenkassen einsetzen, damit die die erforderliche langjährige Betreuung der Eltern und ihrer Kinder übernehmen. Denn dafür gibt es momentan bekanntlich kein Geld.

BSZ:
Gibt es eine Altersgrenze für Operationen bei Intersexuellen?
Poland: Darauf gibt es keine pauschale Antwort.
BSZ: Kommt es auch vor, dass eine Operation überhaupt nicht notwendig ist?
Poland: Es ist alles möglich, es kommt alles vor. Deshalb sind diese interdisziplinären Teams so wichtig. Und deshalb dränge ich darauf, dass grundsätzlich individuell entschieden werden muss. BSZ: Lässt sich bei Intersexuellen ein Geschlecht medizinisch überhaupt definitiv bestimmen?
Poland: Natürlich. Generell kann man bei der Geburt an den Chromosomen erkennen, ob das Kind weiblichen oder männlichen Geschlechts ist. Oder eben – bei Intersexuellen – zweigeschlechtlich.
BSZ: Wie viele Intersexuelle gibt es in Deutschland und in Bayern?
Poland: Dazu gibt es keine Zahlen. Vom so genannten Androgenitalen Syndrom – eine Form von Intersexualität – weiß man, dass auf 11 000 gesunde Kinder eines mit AGS kommt.

"Die Gesellschaft sollte Intersexuelle  in ihrem So-Sein akzeptieren"


BSZ: Gibt es eigentlich Ursachen für Intersexualität?
Poland
: Ja, chromosomale oder hormonelle Ursachen oder ein Enzymdefekt zum Beispiel. Das Gute daran ist: Weil man dies erkennen kann, kann man auch handeln. Die Geschlechtsbestimmung ist viel einfacher als bei Transsexuellen, bei denen wir von biopsychosozialen Ursachen sprechen.
BSZ: Worauf sind die chromosomalen und hormonellen Ursachen zurückzuführen?
Poland: Das wissen wir bislang nicht. Das passiert halt.
BSZ: Die Begriffe Intersexuelle und Transsexuelle werden immer noch häufig verwechselt.
Poland: In der Tat. Dabei ist die Unterscheidung leicht. Transsexualität ist eine Identitätsstörung. Da geht es übrigens gar nicht so sehr um die Sexualität. Es geht um das tiefe innere Zugehörigkeitsempfinden, die tiefe innere Gewissheit, Mann oder Frau zu sein. In der Regel weiß der Mensch das. Transsexuelle wissen es eben nicht. Daraus folgern sie beispielsweise: „Ich weiß, ich bin im anderen Geschlecht.“ Oder sie zweifeln – und finden sich doch mit ihrem biologischen Geschlecht ab.
BSZ: Und Intersexuelle?
Poland: Sie tragen eine organische, eine medizinische Ursache in sich. Sie sind körperlich zweigeschlechtlich.
BSZ: Viele Intersexuelle nennen es Genitalverstümmelung, wenn sie über ihre geschlechtsangleichende Operation sprechen, der sie sich häufig schon im Kindesalter unterziehen mussten. Kommt das oft vor?
Poland: Ja, wenn man Genitalverstümmelung als schlecht ausgeführtes Operationsergebnis versteht. Deswegen gehören in die Teams gut ausgebildete Chirurgen.Transsexuelle sind übrigens mit ihren Operationen viel zufriedener.
BSZ: Wie ist das zu erklären?
Poland: Im Bereich der Operationen für Transsexuelle wird mehr geforscht als bei Intersexuellen. Gerade Eingriffe von Mann zu Frau gelingen mittlerweile relativ gut.
BSZ: Um Intersexuelle vor Diskriminierung zu schützen, wollen die Gesundheitsminister, dass sie künftig als „anders“ ins Personenstandsregister eingetragen werden. Ist das nicht erst recht diskriminierend?
Poland: Das ist eine gute Frage, über die ich schon lange grübele. Transpersonal ist mir mal eingefallen. Aber ist das besser? Ich glaube sowieso, dass es auf etwas anderes ankommt.
BSZ: Worauf?
Poland: Der Antrag zeigt, wie dringlich Intersexuelle geachtet und anerkannt werden wollen. Das aber ist in unserer Gesellschaft meist nicht der Fall. Man ist noch nicht so weit, dass Intersexuelle oder Personen, die nicht der Norm entsprechen, unvoreingenommen und vorurteilsfrei anerkannt und geachtet werden. Sie sind Fremde in unserer Gesellschaft. Und sie leben auf der Grenze zwischen Mann und Frau. Der Theologe Paul Tillich nannte die Grenze einen Ort der Erkenntnis. Intersexuelle müssen sich erkennen und lernen, zu ihrem So-Sein zu stehen. Und sie müssen von unserer Gesellschaft anerkannt werden.
(Interview: Alexandra Kournioti)

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