Politik

680 Menschen verunglückten im Jahr 2013 im Freistaat tödlich. (Foto: dpa)

02.05.2014

Geld oder Leben

Abbiegeassistenten könnten tödliche Unfälle verhindern – doch Nutzfahrzeughersteller scheuen die Kosten

Ganze 20 Prozent der 680 Menschen, die im Jahr 2013 im Freistaat tödlich verunglückten, könnten noch leben – wenn Hersteller mehr in die Sicherheit der Fahrzeuge investieren würden. Bei 80 Prozent der Unfälle war zwar menschliches Versagen der Grund. Doch unter den Toten, die jedes Jahr im Institut für Rechtsmedizin der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) obduziert werden, befinden sich auch regelmäßig Opfer von gebrochenen Bremsscheiben oder verstopften Bremsleitungen. Gegen solche Unfälle hilft nicht einmal eine rechtzeitige Wartung: „Dass eine Bremsleitung nach und nach verstopfen kann, weil bei der Herstellung billigste Materialien verbaut wurden, ist bei der Hauptuntersuchung nicht unbedingt festzustellen“, erklärt der Mediziner und LMU-Unfallforscher Wolfram Hell.
Schon jetzt könnten Autos bei einem Kollaps des Fahrers automatisch abbremsen, wenn die Autoindustrie es anbieten würde. Sicherheitsmaßnahmen seien aber nun mal kostspielig und daher schwer zu vermitteln. „Hier ist leider noch viel Überzeugungsarbeit nötig“, klagt Hell.
Noch drastischer ist die Situation allerdings bei einigen Lkw-Herstellern. Sie weigern sich seit Jahren, ihre Flotten mit einem Abbiegeassistenten auszustatten, obwohl Fahrradfahrer beim Abbiegen immer wieder übersehen und überrollt werden. „Es vergeht kaum ein Monat, in dem in unseren Obduktionsräumen nicht jemand liegt, der auf diese Art und Weise umgekommen ist“, klagt Hell. Die Überlebenschance bei einem solchen Unfall liege praktisch bei null. „Die bisherigen Spezialspiegel helfen wenig, sie verzerren meistens, was eine Entfernungsschätzung schwer macht“, ergänzt sein Mitarbeiter Florian Plöchinger. Allein dadurch entständen 14 Prozent der tödlichen Unfälle.
Dabei könnten diese durch Kameras und Alarmsignale um 31 Prozent gesenkt werden, wie eine Studie der Unfallforschung der Versicherer (UDV) ergab. Erste Erfolge konnten die LMU-Unfallforscher zwar bei Baufahrzeugen erzielen: Diese müssen mittlerweile Kamerasysteme einbauen.

Zynische Gegenargumente

Doch Lkw-Hersteller wiegeln ab: „’Ist kein Markt’, sagen die einen, ‘viel zu geringe Stückzahlen’ die anderen“, erzählt Hell. „Bei unseren Kunden zählt jeder Cent, die kaufen uns das nicht ab“, erzählt ein Fahrzeugbauer der Staatszeitung, will damit aber nicht namentlich zitiert werden. Es sei daher sehr schwierig, die Unternehmen zu überzeugen, mehr Geld für die Sicherheit von Fußgängern auszugeben. „Dabei machen die Kosten den Kohl auch nicht mehr fett“, versichert der Referatsleiter Fahrzeugtechnik Welf Stankowitz vom Deutschen Verkehrssicherheitsrat (DVR), bei dem Hell ebenfalls Mitglied ist.
Die Zeche zahlen am Ende auch die Bürger, da Unfallopfer jährlich einen volkswirtschaftlichen Schaden von vier bis acht Milliarden Euro verursachen.
Damit konfrontiert, verweisen zwar alle Lkw-Hersteller auf ihre Forschungsarbeit zur Sicherheit von Fußgängern und Radfahrern. Auf die Frage, wann mit einer Serienproduktion zu rechnen ist, erhält man jedoch immer die gleiche Antwort: Ein Termin für die Serieneinführung stehe noch nicht fest. „Auf dem Weg von einem Forschungsprojekt zum serienreifen Assistenzsystem müssen absolute Alltagstauglichkeit und Zuverlässigkeit erreicht werden“, rechtfertigt sich zum Beispiel die MAN Truck & Bus AG. Dabei erhielt der Konzern bereits 2009 einen Preis für seinen ausgereiften Abbiegeassistenten mit Ultraschallsensoren. Bei der Daimler AG ist ebenfalls ein Erprobungsfahrzeug mit einem Abbiegeassistenten im Einsatz. „Das Thema kommt schließlich bei jedem tragischen Unfall hoch“, sagt deren Produktsprecherin Uta Leitner.
Doch selbst wenn die Software- und Hardware-Ergebnisse eines Tages ausgewertet sind, müssten die Käufer auch bereit sein, das zusätzliche Geld dafür auszugeben. „Genau das ist das Problem“, erklärt Manfred Kuchlmayr von der Iveco Magirus AG. „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Hersteller und der Verband der Automobilindustrie bei diesem Thema mauern“, betont René Filippek vom Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC). Es könne zwar sein, dass es seitens der Lkw-Käufer wenig Nachfrage gebe, weil Speditionen unter einem hohen Kostendruck stehen. Aber genau aus diesem Grund fordere der ADFC eine gesetzliche Verpflichtung: „Wenn alle neuen Lkw den Abbiegeassistenten haben müssen, ist er kein Kostennachteil mehr.“ Zuständig sei zwar die Europäische Union, aber gerade da habe Deutschland mit seiner Automobilindustrie ein gewichtiges Wort mitzureden.
Dass Abbiegeassistenten Unfälle mit schwächeren Verkehrsteilnehmern vermeiden könnten, versichert auf Nachfrage auch das Bundesverkehrsministerium. „Solange aber nicht alle Herstellersysteme den notwendigen technischen Reifegrad für die Markteinführung erfüllen, ist keine verbindliche Einführung von Abbiegeassistenten für Lkw in den europäischen oder internationalen Gremien geplant“, erläutert ein Sprecher von Verkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU). Sein bayerischer Amtskollege Joachim Herrmann unterstützt bisher lediglich die Unfallforschung. „Für ein Gesetz ist der Bund zuständig“, heißt es im bayerischen Verkehrsministerium lapidar.
Der ADFC glaubt daher, dass es bis zur Anwendungsreife noch geraume Zeit dauern wird. „Die letzten zwei Jahre ist in dieser Richtung nichts passiert“, schimpft Filippek. „Ich befürchte, dass auch in nächster Zeit von politischer Seite wenig Druck in dieser Richtung zu erwarten ist.“ (David Lohmann)

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