Politik

Eine Erinnerungskultur, die einmal ohne Zeitzeugen auskommen muss, wird sich verändern, glaubt Karl Freller (62). (Foto: dpa/Sven Hoppe)

01.02.2019

"Hass und Meinungsterror können wieder in die Katastrophe führen"

Landtagsvizepräsident Karl Freller (CSU) über den AfD-Eklat im Maximilianeum, die Bedeutung von Zeitzeugenberichten und über KZ-Gedenkstätten an der Belastungsgrenze

Bei der Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus kritisierte Charlotte Knobloch, Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde von München und Oberbayern, die AfD – und es kam zu Eklat. Die Mehrheit der AfD-Abgeordneten verließ demonstrativ den Plenarsaal. Vizepräsident Karl Freller (CSU) ist Direktor der Stiftung Bayerische Gedenkstätten, die gemeinsam mit dem Landtag zu der Veranstaltung eingeladen hatte.

BSZ: Herr Freller, nach der Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus galt die Hauptaufmerksamkeit der AfD und dem von ihr provozierten Eklat. Wie sehr ärgert Sie das?
Karl Freller: Es hat mir weh getan, dass die Erzählungen der beiden Überlebenden Abba Naor und Hermann beziehungsweise Else Höllenreiner, die nach Frau Knobloch gesprochen haben, dadurch etwas untergingen. Das waren Zeitzeugenberichte, die unter die Haut gingen, die von so dramatischen und bitteren Schicksalen erzählen, dass sie es wert gewesen wären, von der Öffentlichkeit stärker wahr- und aufgenommen zu werden. Auf der anderen Seite aber hat diese Aktion der AfD auch etlichen Menschen die Augen darüber geöffnet, dass es höchst problematische Entwicklungen in diesem Lande gibt.

BSZ: Hatten Sie im Vorfeld mit Vertretern der AfD gesprochen?
Freller: Von Seiten der AfD waren viele Anmeldungen da, das hatte ich durchaus positiv registriert. Aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass Abgeordnete nicht das Taktgefühl und den Anstand haben, einer Zeitzeugin bis zum Ende ihrer Rede Gehör zu schenken. Danach hätten die AfD-Abgeordneten immer noch sagen können, dass man sich von Frau Knobloch –  der ich höchsten Respekt zolle – andere Worte gewünscht hätte. Rauszugehen aber war für mich ein absolutes No-Go.

BSZ: Hinterher sprach die AfD-Fraktionsvorsitzende Ebner-Steiner gar von Hetze gegenüber ihrer Partei.
Freller: Ja, das Ganze hat sich leider noch in unsäglichen Äußerungen fortgesetzt und gipfelte im skandalösen Tweet von Alice Weidel.

BSZ:
Auf Twitter schrieb sie: „Muttis beste Freundin Charlotte #Knobloch hat sich wirklich entblödet, im Bayerischen Landtag eine Gedenkveranstaltung für geschmacklose Parteipolitik zu missbrauchen. Wie tief muss man sinken?“
Freller: Ich kann nur festhalten, die AfD hat gezeigt, welch Geistes Kind nicht wenige der bei dieser Partei in Verantwortung Stehende sind. Umgekehrt aber habe ich mit Freude die Reaktion des Parlaments auf diese unterirdische Aktion erlebt: Solidarität durch Standing Ovations für Frau Knobloch. Das Parlament hat sich geeint positioniert gegen diese Aktion.

BSZ: Die AfD will demnächst einen weiteren Anlauf für die Besetzung des noch vakanten Vizepräsidenten-Postens unternehmen. Ist es überhaupt noch denkbar, dass das Erfolg haben könnte?
Freller: Als Vizepräsident bin ich grundsätzlich immer um äußerste Korrektheit und Fairness bemüht. Dass die Skepsis bei Kollegen wächst, was die demokratische Grundhaltung der AfD betrifft, liegt aber nahe. Und kein Abgeordneter ist gezwungen, jemanden zu wählen, dem er nicht traut.

"Wichtig, noch möglichst viele Zeitzeugenberichte unmittelbar hören"

BSZ: Holocaustüberlebende, die persönlich von ihren Erlebnissen erzählen können, werden immer weniger. Was bedeutet das für unsere Erinnerungskultur?
Freller: Es ist wichtig, dass wir noch möglichst viele Zeitzeugenberichte unmittelbar hören. Noch gibt es diese authentischen und damit unangreifbaren Berichte der Zeitzeugen über ihr Leben, ihr Schicksal und ihr Leid. Das kann kein noch so guter Film oder eine noch so perfekte Dokumentationsstätte ersetzen. Jugendliche, die heute auf Zeitzeugen treffen, werden Ende des Jahrhunderts 95 Jahre alt sein. Und sie werden die letzten sein, die davon berichten können, jemanden persönlich getroffen zu haben, der unter den Nazis gelitten hat.

BSZ: Die Jugend von heute ist die vierte Generation nach dem Krieg. Zeit aber schafft immer Distanz, oder?
Freller: Für sie liegt das Dritte Reich so weit zurück wie für uns vielleicht Bismarck. Es ist zunehmend Geschichte, und Geschichte berührt per se nicht mehr so sehr wie Zeitgeschehen. Diese spezielle Geschichte aber muss wachgehalten werden, weil sie zeigt, wie gefährdet auch die Gegenwart sein kann. Das Lernen aus der Vergangenheit ist die Sicherung der Zukunft. In den 1920er-Jahren ist das alles peu à peu angelaufen. Wir müssen Obacht geben, dass mit Meinungsterror und der Missachtung anderer nicht plötzlich wieder ein Weg beschritten wird, der in eine Katastrophe führt. Meist konzentriert sich das alles auf ein Thema: Hass. Davor zu bewahren sehe ich als wesentliche Aufgabe der Gedenkstätten-Stiftung an.

BSZ: Was halten Sie von der Diskussion über Pflichtbesuche von KZ-Gedenkstätten?
Freller: Für Gymnasien gibt es die, für alle anderen Schularten werden Besuche empfohlen. Schüler aber durch ein ehemaliges KZ zu schleusen, um das Thema abzuhaken, reicht nicht. Es bedarf einer guten Vor- und Nachbereitung. Es gibt auch andere Formen, an diese Thematik heranzuführen: Projekte, die die Heimatgeschichte unter dem Gesichtspunkt Verfolgung erforschen beispielsweise. Wichtig ist der Wille an Schulen, diese Thematik als Ganzes sehr sorgsam und gut vorbereitet an die Schüler zu bringen.

Auf die Wiesn nach dem KZ-Besuch - warum nicht?

BSZ: Erkennen Sie diesen Willen an Bayerns Schulen?
Freller: An vielen schon. Mein eigener Lebensweg hängt mit meiner Tätigkeit als Religionslehrer an der Realschule in Schwabach zusammen. Auf die Initiative eines Geschichtslehrers sind wir mit Schülern gemeinsam nach Flossenbürg gefahren. Als ich dann mit nur 26 Jahren überraschend in den Landtag kam, diskutierte das Parlament über den schlechten Zustand der Einrichtungen in Flossenbürg. Nicht jeder in der Fraktion war von der Dringlichkeit überzeugt. Ich aber wusste, dass alles, was dort bislang unternommen wurde, unzureichend war. Die Fraktion sagte: Gut, du kennst dich da aus, also kümmere dich darum. Und so bin ich in das Thema hineingewachsen.

BSZ: Immer mehr Menschen besuchen die Gedenkstätten. Allein Dachau musste im vergangenen Jahr knapp eine Million Besucher verkraften. Sind die Erinnerungsorte an ihrer Belastungsgrenze?
Freller: Der Andrang ist an manchen Tagen tatsächlich so groß, dass Aufmerksamkeit und Einfühlungsvermögen nachlassen. Wir stehen vor einer Riesenherausforderung. Aber wir haben auch jede Menge Pläne, wie man Dachau weiterentwickeln sollte. Wir brauchen zum Beispiel mehr Räume, mehr Personal und neue Ausstellungskonzeptionen. Durchgesetzt haben wir schon, dass der Parkplatz an der KZ-Gedenkstätte erneuert wird. Das klingt banal, aber wenn die Infrastruktur nicht stimmt, ist auch der Zugang zu den Inhalten erschwert.

BSZ: Der Andrang freut Sie?
Freller: Natürlich! Ich wehre mich auch nicht gegen Touristen, die aus Neugier kommen und meinen, man müsste die Gedenkstätte abhaken wie jede andere Sehenswürdigkeit. Vor einigen Jahren war ich mal während der Oktoberfestzeit in Dachau und habe mich über die vielen Menschen in Lederhosen und Dirndl gewundert. Ich habe mich damals gefragt, ob ein Besuch eines ehemaligen KZ mit einem anschließenden Wiesn-Besuch zusammengeht. Und kam zu dem Schluss: Warum nicht? Wenn jemand zum Nach- und Weiterdenken bewegt wird, ist dadurch doch viel gewonnen. Und die Diskrepanz zwischen dem Erleben, wie Menschen im KZ gelitten haben und wie schön man selbst auf der Wiesn feiern darf, lehrt vielleicht auch, was es heißt, in einer freiheitlichen Demokratie zu leben.
(Interview: Angelika Kahl)

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