Politik

Bedrohlicher Nachbar: Im Vordergrund weht die Fahne Estlands in Narva, der östlichsten Stadt des Landes – nur wenige Hundert Meter entfernt von der bereits zu Russland gehörenden Burg Iwangorod, auf der die russische Fahne weht. (Foto: dpa/Kay Nietfeld)

04.08.2022

"Man ist hier viel mehr bereit, Putin die Stirn zu bieten"

Der Politikwissenschaftler und Estland-Experte Florian Hartleb (43) über das IT-Potenzial seines Gastlands und den dortigen Umgang mit dem Krieg in der Ukraine

Estland war im Jahr 2007 das erste Land Europas, in dem ein – mutmaßlich von Russland ausgeführter – Cyber-Angriff auf die staatliche Infrastruktur erfolgte. Die Esten haben ihre Lektion gelernt und gelten inzwischen als weltweiter Vorreiter in Sachen IT-Sicherheit. Der aus Passau gebürtige Hartleb erklärt, wie die Menschen mit der Angst umgehen, das nächste Opfer von Putins Aggression zu werden, und was die Deutschen von dem kleinen Balten-Volk lernen können.

Bayerische Staatszeitung Herr Hartleb, Estland gilt als IT-Vorreiter: Hilft das dem Land auch aktuell bei den Herausforderungen im Zusammenhang mit den Russland-Sanktionen?
Florian Hartleb Nach dem russischen Cyber-Angriff wurde die Cyber-Security deutlich ausgebaut. Und Estland kommt auch eine Schlüsselrolle zu, weil sich hier das Cyber-Security-Zentrum der Nato befindet, wo Simulationen solcher Angriffe durchgespielt werden. Und da der Krieg in der Ukraine ein hybrider ist – also auch im Netz geführt wird –, ist die Kompetenz des Landes wichtig. Wir Deutschen können da von Estland lernen, denn Cyber-Angriffe werden wohl auch bei uns in Zukunft häufiger erfolgen. Das zeichnet sich schon jetzt ab.

BSZ In Deutschland wächst die Angst, dass man sich mit den Sanktionen überhoben hat. Wie sieht man das in Estland?
Hartleb Zu den Sanktionen sieht hier niemand eine Alternative. Und man war sehr erstaunt über die doch sehr zögerliche Haltung in Deutschland, auch jetzt wieder im Zusammenhang mit der Unterstützung der Ukraine in Form von Kriegsgerät. Dass die Deutschen die Wehrpflicht ausgesetzt haben, hat in Estland niemand nachvollziehen können. Die Menschen in Estland haben mit diesem Kriegsszenario gerechnet – spätestens seit 2014, als Russland die Krim besetzte. Hier melden sich aktuell viele Freiwillige zum Militär, gerade zu Übungen, auch Frauen. Dass man das eigene Land notfalls auch mit der Waffe verteidigen muss, gilt hier als selbstverständlich. Und lange vor uns hat Estland auch versucht, bei der Energieversorgung unabhängiger von Russland zu werden.

BSZ Worauf basiert die estnische Energieversorgung?
Hartleb Völlig unabhängig von Russland war sie natürlich auch nicht – gerade, was das Gas betrifft. Auch hier sind die Elektrizitäts- und Gaspreise drastisch angestiegen, bei der Inflation nimmt das Land aktuell den Spitzenplatz in Europa ein. Aber die Bereitschaft, das als unvermeidbare Konsequenz zu tragen, wenn man der russischen Aggression die Stirn bieten will – die ist deutlich ausgeprägter als in Deutschland.

BSZ Estland liegt viel näher an russischem Staatsgebiet als die Bundesrepublik: Besteht eine größere Angst als bei uns, zum Kriegsschauplatz zu werden?
Hartleb Kürzlich kam es zu einer direkten Auseinandersetzung des benachbarten Litauen mit Russland, das direkt an dessen Exklave Kaliningrad grenzt, über den Durchgangsverkehr. Und es gibt in Estland, Lettland und Litauen aktuell immer wieder Verletzungen des Luftraums durch russisches Militär, auch schon vor dem Ukraine-Krieg. Aktuell hat die Bundeswehr übrigens das französische Militär abgelöst bei der Zuständigkeit für die Überwachung des Nato-Luftraums über dem Baltikum. Wir werden aller Wahrscheinlichkeit sehen, dass es zu weiteren Verletzungen kommt.

BSZ Sie leben mit Ihrer Familie in Tallinn, haben zwei kleine Kinder: Würden Sie sich derzeit daheim in Bayern sicherer fühlen?
Hartleb Am Anfang, als der Krieg ausbrach – da hätten wir uns in Bayern wohl doch sicherer gefühlt. Aber inzwischen macht es keinen Unterschied mehr.

BSZ In Estland lebt eine große russische Minderheit: Gibt es ihr gegenüber Anfeindungen?
Hartleb Es werden beispielsweise Konzerte abgesagt von Künstlerinnen und Künstlern, die offen mit Putin sympathisieren, russische Fernsehsender kann man nicht mehr empfangen. Prorussische Kundgebungen und entsprechende Äußerungen in der Öffentlichkeit werden unterbunden und Denkmäler aus der Zeit der Sowjetunion – auch solche, die an den Sieg über das nationalsozialistische Deutschland erinnern – benennt man um. Gedenkplatten, die daran erinnern, sollen bis zum Jahresende verschwinden, teilte der Außenminister Urmas Reinsalu gerade in einem Radiointerview mit. Keine Propaganda von Russland soll mehr im Land wirken. Estland war auch das erste Land der EU, wo das Parlament in Bezug auf die russische Aggression in der Ukraine ganz offiziell von einem Genozid sprach. Lettland folgte unmittelbar.

BSZ Umgangssprachlich reden wir im Westen immer vom Baltikum – aber sind sich die drei Länder Estland, Lettland und Litauen wirklich so ähnlich?
Hartleb Ganz und gar nicht. Die drei genannten Länder trennt kulturell mehr, als sie eint. Der Begriff Baltikum wird in Estland sogar als Beleidigung empfunden. Gemeinsam ist ihnen die Besetzung durch Nazideutschland und später durch die russisch dominierte Sowjetunion sowie, damit verbunden, die hohe Zahl an Deportationen ihrer Bürgerinnen und Bürger nach Sibirien. Die kritische bis abgeneigte Sichtweise auf das heutige Russland ist sehr ähnlich. Und der Hitler-Stalin-Pakt hat das Gefühl geschärft, aufpassen zu müssen, dass man nicht zum Opfer einer deutsch-russischen Einigung über die eigenen Köpfe hinweg wird. Der Drang, zum Westen, zur EU und zur Nato, zu gehören, ist sehr stark. Nach der Unabhängigkeit 1991 wurde die eigene Nationalität sehr stark betont – so hat man beispielsweise eine doppelte Staatsbürgerschaft für die ethnischen Russen verboten – und teilweise wird das heute von rechtsradikalen Parteien, die es in allen drei Ländern gibt, auch missbraucht.

BSZ Haben Sie eine Idee, wie sich der Krieg beenden ließe?
Hartleb Einem Aggressor wie Putin kann und sollte man nicht vertrauen. Es braucht, wenn ein Ende in Reichweite geraten soll, effektive Sicherheitsgarantien für die Ukraine. Und Putin muss sich als Kriegsverbrecher dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag stellen – wie die serbischen Anführer des Bosnien-Krieges.

BSZ Was können wir Deutschen vom estnischen Krisenmanagement mit Blick auf den Krieg lernen?
Hartleb Unter anderem, dass es darauf ankommt, ein ganz klares Bewusstsein für die tatsächlichen Verhältnisse zu schaffen; zu sagen, wie die Situation wirklich ist und auf welchen früheren Entwicklungen sie basiert. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder hat ja bei Kriegsausbruch über Wladimir Putin gesagt, der Mann sei „wohl über Nacht verrückt geworden“. Damit macht man es sich natürlich sehr einfach. Denn das Vorgehen Russlands in der Ukraine ist kein Ausdruck einer Geisteskrankheit, sondern langfristig und präzise vorbereitet und geplant worden. Ähnlich unbedarft redete der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer daher, der forderte, dass man den Krieg einfach „einfrieren“ müsse. Dass das nicht geht, das ist in Estland allen klar und da gibt man sich auch keinen Illusionen hin. Es hat sich ja nun bestätigt, dass die drei baltischen Länder mit ihren jahrelangen Warnungen vor Putin am Ende recht behalten haben. Die geopolitische Gefahr, die von Putins Russland für seine Nachbarstaaten ausgeht, die haben die drei Länder viel eher erkannt.
 

BSZ Woran könnte das liegen?
Hartleb Diese Stimmen wollte man in Deutschland einfach nicht hören. Es gibt, meinen die Menschen in den baltischen Ländern, eine Art sentimentales Gefühl der Deutschen gegenüber Russland und eine übergroße Nachsicht – sogar gegenüber Putin als Person; auch jetzt noch. Die Menschen in Estland kritisieren, dass die Deutschen immer Angst hatten, nur ja nicht die russische Seele zu verletzen. Aber was mit den Gefühlen der anderen osteuropäischen Länder geschieht, das sei ihnen weitgehend egal.(Interview: André Paul)

 

 

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