Politik

Fast ein Viertel aller Viertklässler zeigt Probleme im Sozialverhalten – Lehrer sind damit oft überfordert. (Foto: dpa)

18.12.2015

Mini-Lösung für Maxi-Probleme

Schulpsychologen haben in Bayern viel zu tun: Emotionale Störungen oder auch Hyperaktivität haben stark zugenommen – traumatisierte Flüchtlingskinder verschärfen die Lage weiter

Ein Lehrer vermittelt den Stoff, für alles andere in der kindlichen Entwicklung ist die Familie zuständig. Das war einmal. Heute werden Lehrer in der Schule mit Themen konfrontiert, die weit über Mathe-, Deutsch- und Englischkenntnisse hinausgehen. Schulpsychologen könnten helfen. „Psychische Auffälligkeiten bei Kindern in Bayern“ – eine Tabelle mit Zündstoff versteckt sich auf Seite 52 des Bayerischen Kindergesundheitsberichts: Demnach zeigte fast ein Viertel aller Viertklässler im Schuljahr 2009/1010 Probleme im Sozialverhalten, 22 Prozent hatten Probleme mit Gleichaltrigen, 17 Prozent emotionale Probleme und 14 Prozent Konzentrationsschwierigkeiten oder Hyperaktivität. „Es gibt mittlerweile mehr psychische als körperliche Erkrankungen“, bestätigt Hans-Joachim Röthlein, Vorsitzender des Landesverbands der bayerischen Schulpsychologen.

Das Problem ist: „Die Schullandschaft hat sich sehr stark verändert, Familie hat sich geändert. Was aber gleich geblieben ist, ist die Ausstattung der Schulpsychologen. Da sind wir noch im letzten Jahrhundert,“ erklärt Röthlein.

Und die Probleme werden nicht geringer, denn: Zu den genannten Themen kommen Kriegs- und Fluchterlebnisse bei den neuen Schülern aus den Kriegsgebieten. Schätzungen gehen davon aus, dass etwa die Hälfte aller Flüchtlingskinder, die vor allem auf Grund-, Mittel-, Real- und Berufsschulen gehen, schwer traumatisiert sind. Die Lehrer sind darauf nicht vorbereitet. Und jene, welche vorbereitet sind – Schulpsychologen – bekommen nicht genug Stunden für diese neue Herausforderung.

Etwa 4800 öffentliche Schulen gibt es in Bayern. Für sie sind 880 staatliche Schulpsychologen zuständig. Das heißt rein rechnerisch: Ein Schulpsychologe muss sich um fünfeinhalb Schulen – also jeweils um hunderte Schüler und Kollegen dort – kümmern. Außerdem – das ist eine bayerische Besonderheit – ist ein Schulpsychologe in erster Linie Lehrer, der unterrichten muss. Und das nicht zu knapp: Laut Röthlein stehen von den 24 Schulstunden, die ein Gymnasiallehrer unterrichtet, dem Schulpsychologen 20 Stunden für Unterricht in seinem Fach und nur vier Stunden für die Beratungstätigkeit zur Verfügung. „Das reicht hinten und vorne nicht – bei bis zu 1500 Schülern an einem Gymnasium.“ An den Realschulen sind es zwischen zwei und sechs Stunden, an den Grund- und Mittelschulen sechs Stunden.

Die Lehrer, die damit quasi nur nebenher Schulpsychologen sind, werden von den Schulämtern vor allem als Lehrer gesehen: „Erst wird die Unterrichtsversorgung abgedeckt, nicht der schulpsychologische Bedarf“, bedauert Röthlein. „Wir unterstützen grundsätzlich den bayerischen Weg, dass ein Schulpsychologe auch Lehrer ist, fordern aber eine bessere Ausstattung: Halb Unterricht, halb Beratung wären sinnvoll.“

Kinder, die austicken, wenn der Lehrer die Tür zumacht

Das Kultusministerium hält dem entgegen: Die Anzahl der Schulpsychologen und die zur Verfügung gestellten Anrechnungsstunden seien bei abnehmenden Schülerzahlen in den vergangenen Jahren kontinuierlich erhöht worden. „Dadurch ist insgesamt eine gute schulpsychologische Versorgung gewährleistet“, findet daher Henning Gießen, stellvertretender Pressesprecher des Ministeriums.

Doch Fachleute bezweifeln dies: Zum einen sind da die erwähnten Veränderungen der Gesellschaft, die mehr psychologische Beratung in den Schulen nötig machen. Der Kindergesundheitsbericht zeigt das. „Da sind Kompetenzen gefragt, die kann man nicht mit einfacher Fortbildung erwerben“, sagt Simone Fleischmann, Präsidentin des Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverbands, der vor allem die Grund- und Mittelschullehrer vertritt. Sie zählt auf: „Legasthenie, Ticks, Dyskalkulie, das gesamte gesellschaftliche Feld der psychischen Störungen hat man auch in der Schule. Dann Digitalisierung, Inklusion, individuelle Förderung, Ganztagsschule, das sind alles Baustellen.“

Zum anderen gibt es die aktuellen Entwicklungen durch eine höhere Anzahl teilweise traumatisierter Flüchtlingskinder in den Klassen. Fleischmann sieht daher großen Bedarf an Schulpsychologen, „die wunderbar helfen können, Deutschförderung machen können, auch die Beratung der Lehrer, die Förderpläne für die Kinder.“ Schulpsychologen könnten „einen differenzierten Blick auf die Flüchtlinge lenken. Da ist deren Kompetenz stark gefragt“.

Und schließlich gebe es auch die traumatisierten Kinder, die harten Fälle: „Als Lehrerinnen und Lehrer, die da wenig Ahnung haben, brauchen wir jemanden, mit dem wir reden können, warum sich ein Kind immer unter dem Tisch versteckt oder nie auf die Toilette geht, das austickt, wenn ich die Tür zumache oder eine rote Hose anhabe“, sagt Fleischmann.

Schulpsychologische Beratung bräuchte es an jeder Schule

„Man bräuchte im Grunde an jeder Schule eine schulpsychologische Beratung. Einerseits für die Flüchtlinge, die fast alle in irgendeiner Weise traumatisiert sind. Andererseits aber auch für die Lehrer, die oft mit dieser Situation überfordert sind“, sagte auch Bernhard Jehle, Leiter des Instituts für Pädagogik und Schulpsychologie Nürnberg (IPSN), kürzlich der Deutschen Presse-Agentur. Das Kind oder der Jugendliche habe vielleicht auf der Flucht jemanden neben sich tot niedersinken oder ertrinken sehen. „Für ein Kind kann es auch traumatisierend sein, wenn es eine ganze Nacht auf einer Brücke an der Salzach oder am Inn verbringen muss – oder ein Elternteil in der Heimat zurückgelassen werden musste.“ Solche Probleme brächten die Flüchtlinge mit in die Schulen. „Und da braucht es Psychologen.“

„Jetzt wären die KIBBS-Leute gefragt“, sagt Simone Fleischmann. Das Krisen-Interventions- und Bewältigungsteam Bayerischer Schulpsychologen und -psychologinnen (KIBBS) besteht aus 90 Lehrerinnen und Lehrern. Sie werden bei Suiziden, Amokläufen und Anschlägen an den Schulen aktiv. Doch für Röthlein und Fleischmann sind sie auch jetzt „perfekt einsetzbar“, weil sie eine traumatherapeutische Ausbildung haben. Die BLLV-Präsidentin fordert: „Die KIBBS-Mitglieder müssen so schnell wie möglich bedarfsgerecht freigestellt werden: für die Begleitung der Lehrer und Kinder. Und dann muss man neue Lehrer einstellen, die für die KIBBS- Leute Unterricht halten.“

Doch offenbar ist das nicht vorgesehen: Im Nachtragshaushalt stehen zwar 163 Millionen Euro für die Integration von Flüchtlingen, 1079 neue Lehrer sollen eingesetzt werden. Das KIBBS-Kontingent wurde um 92 Stunden erhöht, „aber das macht pro KIBBS-Mitglied nur etwa eine Stunde, das ist nicht wirklich viel“, kritisiert Röthlein und gibt zu bedenken: „Natürlich muss jedes Kind erst einmal Deutsch lernen, aber dann ist unbedingt das Trauma dran, sonst wird es schwer mit der Integration.“ Röthlein ist deshalb besorgt, weil auf der Nachschubliste zum Haushalt „keine Schulpsychologen auftauchen“.

Das Kultusministerium gibt sich allerdings bedeckt: „Ob die Schulpsychologie in Bayern darüber hinaus noch weiter gestärkt werden kann, ist noch nicht abschließend geprüft.“ (Anja-Maria Meister)

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