Politik

01.07.2011

Mitarbeiter auf Abruf

Die Zahl der Leiharbeiter steigt dramatisch – Gewerkschaften fürchten, dass sich auch Befristungen bald wieder häufen

Zunächst war Christof Meier* froh, dass er überhaupt einen regulären Job gefunden hatte. Doch als der Chemisch-Technische Assistent (CTA) endlich seinen Arbeitsvertrag in der Hand hielt, war es schnell vorbei mit der Euphorie. Denn der Chemiekonzern, bei dem der Münchner anheuerte, hatte seinen Arbeitsvertrag kurzerhand auf zwei Jahre befristet. Meier nahm die Stelle zwar an. Doch er klagt: „Mir fehlt die Sicherheit für größere Anschaffungen oder eine Familie.“
Vielen Bayern geht es trotz boomender Wirtschaft so wie dem jungen Münchner. Fast jede fünfte der rund 68 200 im Mai bei der Arbeitsagentur gemeldeten freien Stellen im Freistaat war nur befristetet. Vor sieben Jahren betrug der Anteil der befristeten Jobs an allen Neuausschreibungen dagegen lediglich 15,5 Prozent. Allerdings ist die Zahl solcher Arbeitsplätze im Vergleich zu 2010 sogar leicht rückläufig. Denn im Januar vergangenen Jahres war noch bei 23,3 Prozent der erfassten Stellen ein festgeschriebenes Verfallsdatum in den Behördenakten vermerkt.
Dafür nahm jedoch die Zahl der Leiharbeiter jüngst dramatisch zu. Handelte es sich im Januar 2010 noch bei jeder vierten über das Jobcenter ausgeschrieben Stelle um einen Zeitarbeitsvertrag, war es im Mai dieses Jahres bereits jede dritte. Damit sind mehr als die Hälfte der von der Arbeitsagentur in Bayern erfassten sozialversicherungspflichtigen freien Stellen befristet oder Zeitarbeitsverträge.
Matthias Jena, Landeschef des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), kritisiert die Zunahme der prekären Beschäftigung scharf: „Der Aufschwung geht bislang an vielen Beschäftigten vorbei. Denn ein großer Teil der neuen Stellen ist miserabel bezahlt, befristet oder Leiharbeit“, poltert er.
Glaubt man Arbeitnehmervertretern, dürfte nicht nur das Geschäft mit der Leiharbeit, sondern auch die Zahl der befristeten Stellen schon bald wieder kräftig zulegen. Grund: Ein bislang in der Öffentlichkeit kaum beachtetes Urteil: Das Bundesarbeitsgericht beschloss im April, Unternehmern die Befristung von Arbeitsverhältnissen deutlich zu erleichtern.
Die befristete Neueinstellung eines Beschäftigten bei einer Firma, bei der der Mitarbeiter bereits gearbeitet hatte, sei möglich. Und zwar dann, wenn das frühere Arbeitsverhältnis mehr als drei Jahre zurückliegt, entschied das Erfurter Gericht in seinem Urteil. Zuvor war die sogenannte sachgrundlose Befristung eines Arbeitsvertrags beim gleichen Unternehmen ausgeschlossen. Das Gericht schränkte damit das Verbot der „Zuvor-Beschäftigung“ deutlich ein. Ein Gerichtssprecher bezeichnete das Urteil im April als „erhebliche Erleichterung“ für Arbeitgeber.


Urteil bringt erhebliche Erleichterungen für Chefs


Die Situation für die Arbeitnehmer wird sich dadurch spürbar verschlechtern, fürchtet die Landesbezirksleiterin der Gewerkschaft Verdi Luise Klemens. „Kurzfristig dürfte es zwar keine Veränderungen geben, doch bereits im kommenden Jahr wird der Anteil der befristeten Stellen wieder steigen“, prophezeit sie. Für Klemens ist klar: „Die Unsicherheit der Angestellten wird zunehmen!“
Auch DGB-Boss Jena ist entsetzt: „Sollte aus der noch ausstehenden Urteilsbegründung hervorgehen, dass das BAG-Urteil keine Einzelfallentscheidung ist, dann wäre das sicher heftig.“ Die Entscheidung stehe zudem im Gegensatz zum Wortlaut des Arbeitsgesetzbuches. „Es ist zu befürchten, dass Firmen das Urteil als Ausrede für prekäre Beschäftigungsverhältnisse nutzen“, sagt Jena.
Bislang ist eine Zunahme solcher Jobs auf Abruf aufgrund des Urteils empirisch jedoch noch nicht messbar. So sank der Anteil der befristeten Stellen im Mai laut Arbeitsagentur sogar von 19,8 auf 19,6 Prozent. Die Juni-Zahlen liegen noch nicht vor.
Als Instrument, um mehr Jobs zu schaffen, sehen viele bayerische Firmen die Befristung von Arbeitsverträgen. „Das deutsche Arbeitsrecht ist ein gravierender Standortnachteil für Deutschland“ sagt Bertram Brossardt, Geschäftsführer der Vereinigung der bayerischen Wirtschaft (vbw). Die Entscheidung, eine befristete Beschäftigung beim selben Arbeitgeber zuzulassen, wenn das frühere Arbeitsverhältnis mehr als drei Jahre zurückliegt, gehe daher in die richtige Richtung. „Befristete Arbeitsverhältnisse eröffnen Arbeitssuchenden den Weg in eine dauerhafte Beschäftigung“, wirbt Brossardt.
Wirtschaftsverbände fordern von der Bundesregierung schon lange, die gesetzlichen Beschränkungen von Stellenbefristungen aufzuheben. Bislang mit mäßigem Erfolg. So haben Union und FDP 2009 zwar eine Reform zugunsten der Arbeitgeber im Koalitionsvertrag vereinbart – den Regierungsplänen zufolge soll das Wiederbeschäftigungsverbot nur mehr dann gelten, wenn ein früheres Arbeitsverhältnis weniger als ein Jahr zurückliegt. Eine entsprechende Gesetzesinitiative dazu ist bisher aber ausgeblieben.
Vor allem der Arbeitnehmerflügel der Union stellt sich in dieser Frage quer. Auch DGB-Boss Jena warnt die Bundesregierung davor, die Befristung zu erleichtern. Die Opposition stellt sich ebenfalls quer. Die Genossen wollen die sachgrundlosen Befristungen am liebsten gleich ganz abschaffen. „Das hat Ausmaße angenommen, die so nicht hingenommen werden können“, sagt der SPD-Bundestagsabgeordnete Klaus Barthel. Ebenso wichtig sei es allerdings, gegen die Ausweitung der Leiharbeit vorzugehen, findet der linke Wirtschaftspolitiker.
Das sieht auch der DGB so: Die Arbeitnehmervertreter gehen ohnehin davon aus, dass die Zahl der Zeitarbeiterjobs im Freistaat noch höher ist als von den Behörden berechnet. Grund: Die Arbeitsagentur erfasst in ihrer Statistik nur Firmen, die ihren Hauptzweck im Verleih von Angestellten haben. Hat ein Konzern dagegen eine eigene Unternehmenstochter, in der sowohl Leiharbeiter als auch regulär Beschäftigte schuften, werden diese von der Arbeitsagentur nicht registriert. Selbst der prominenteste Fall von Lohnsklaverei, die anvisierte flächendeckende Leiharbeit bei Schlecker, wäre so in der Statistik nie aufgetaucht. (Tobias Lill)
*Name geändert

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