Politik

Screenshot eines Propagandavideos: Die Frauen gehören angeblich einer IS-Kampfeinheit an, die nur aus Dschihadistinnen besteht. (Foto: dpa)

07.08.2015

"Radikalisierung kann rückgängig gemacht werden"

Extremistenberater Thomas Mücke über die Anziehungskraft des Islamischen Staats, Präventionsmöglichkeiten für Jugendliche und mangelnde politische Unterstützung

Dschihadisten versuchen verstärkt, Kinder und Jugendliche anzuwerben. Geschäftsführer Thomas Mücke vom Violence Prevention Network bemüht sich um Prävention und Deradikalisierung. Viele reisen nicht aus Glaubensgründen in die Krisengebiete, meint er. Ihnen könnte also geholfen werden. Was fehlt, sind Beratungsangebote. BSZ: Herr Mücke, kürzlich versuchte sich ein 13-Jähriger aus München dem Islamischen Staat (IS) anzuschließen. Werden die IS-Unterstützer immer jünger?
Thomas Mücke: Tatsächlich werden seit Neuestem ganz besonders Mädchen zwischen 13 und 16 Jahren angeworben, damit sie im IS-Staat verheiratet werden und Kinder bekommen. Am Anfang wurden nur Kämpfer rekrutiert – jetzt geht es darum, den Staat aufzubauen.

BSZ: Was sind die Beweggründe für junge Mädchen, sich dem IS anzuschließen?
Mücke: Bei Jüngeren spielt oft Abenteuerlust oder eine Krise eine Rolle. Zum Beispiel hatte ich neulich einen Fall, wo der Vater gestorben ist. Und die Szene bietet vermeintlich Ersatz für eine fehlende Vaterfigur. Bei erwachsenen Frauen hat es oft etwas mit gescheiterten Lebensläufen zu tun. Eine 26-Jährige beispielsweise traute sich nicht mehr zu, eigene Entscheidungen zu treffen. Sie suchte daher im IS-Kalifat Unterstützung und einen sicheren Hafen. Außerdem haben Frauen dort etwas, was sie in Deutschland nicht haben: einen hohen sozialen Status. Viele gehen also nicht aus Hass nach Syrien, sondern wegen der aktuellen Lebenssituation.

BSZ: Und wieso melden sich freiwillig kleine Jungs, um in den Krieg zu ziehen?
Mücke: Bei männlichen Jugendlichen ist der klassische Weg das Interesse an der Religion. Sie suchen im Internet nach Antworten und kommen schnell auf die salafistischen Seiten. Das ist ein Problem, weil die meisten religiöse Analphabeten sind. Auch die „Lies“-Koranverteilungsaktionen sind ein Einfallstor in die extremistische Szene. Anschließend werden den Jugendlichen Glaubensbrüder vorgestellt, die sie zu privaten Gesprächskreisen mitnehmen. Dort fühlen sie sich emotional sehr wohl und sind dafür sehr dankbar. Dann kommen Leute, die sagen, wenn du aus Dankbarkeit etwas tun willst, dann darfst du nicht länger zuschauen, wie Muslime auf der Welt verfolgt und getötet werden.

BSZ: Wie können Sie diesen jungen Menschen helfen?
Mücke: In einem neuen Projekt versuchen wir, Jugendliche, die in Syrien waren, im schulischen Bereich auftreten zu lassen. Dort sollen sie erzählen, wie sie in die Szene kamen und was sie im Krisengebiet erlebt haben. Grundsätzlich gilt: Wenn Warnhinweise aus den Schulen, Moscheen, Jugendeinrichtungen oder Familien kommen, nehmen wir sofort Kontakt mit den Jugendlichen auf. Das Schlimmste ist, wenn außer dem extremistischen Milieu keiner mehr mit ihnen redet. Deshalb versuchen wir, auch die Eltern im Umgang mit ihren Kindern zu stärken. Auffällig ist, dass 50 Prozent in den Beratungsstellen deutsche Konvertierte sind.

50 Prozent in den Beratungsstellen sind deutsche Konvertierte

BSZ: Viele Syrien-Rückkehrer sind erst 16 Jahre alt. Wie können sie in die Gesellschaft re-integriert werden?
Mücke: Bei den desillusionierten und traumatisierten Syrien-Rückkehrern schauen wir, dass sie wieder in die Schule können und eine Ausbildung bekommen. Wir diskutieren auch viel mit den Jugendlichen, füttern die Desillusionierung und motivieren sie, wieder selbst zu denken – dabei lässt sich eine Menge bewirken. Die, die nach Syrien gegangen sind, weil sie Lust hatten, anderen Menschen Leid zuzufügen, wird man aber nicht nur auf pädagogische Art und Weise erreichen können.

BSZ: Für wie effektiv halten Sie die aktuellen Maßnahmen der Politik, beispielsweise Dschihad-Willigen den Personalausweis zu entziehen?
Mücke: Natürlich muss man im Sicherheitsbereich alles tun, was man tun kann. Ein Ausreiseverbot allein reicht aber nicht aus. Dem Islamist aus Kempten wurde auch ein Ausreiseverbot auferlegt, aber er hat andere Wege gefunden und ist kurz danach im Kampfgebiet gestorben. Wenn Jugendliche ausreisen wollen, haben sie ein Problem. Und wir müssen uns schnellstens darum kümmern, neben den notwendigen Sicherheitsaspekten danach zu schauen, wie wir in den Köpfen dieser Menschen wieder was verändern können.

BSZ: In Bayern soll jetzt ein Kompetenzzentrum gegen Salafismus beim Landeskriminalamt geschaffen werden, um Betroffene beim Ausstieg zu unterstützen. Ein richtiger Schritt?
Mücke: Das gibt es in anderen Bundesländern schon länger. Gerade in Bayern sind die Zahlen recht bedenklich. Zehn Prozent der Ausreisenden kommen aus dem Freistaat. Auch die Anzahl der Beratungsfälle bei der Beratungsstelle Radikalisierung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ist nicht gering. Man kann sehr viel tun, das zeigt ganz Besonders das Modellprojekt in Hessen. Man kann die Jugendlichen erreichen, man kann die Ausreise verhindern und man kann auch die Radikalisierungsprozesse wieder rückgängig machen. Dazu müssen die Bundesländer aber Beratungsangebote schaffen. Momentan kommen wir dem Beratungsbedarf aus finanziellen und personellen Kapazitäten nicht nach.

BSZ: Wie sehr beschäftigen Sie die Gespräche mit den radikalisierten Jugendlichen nach Feierabend?
Mücke: Nach dem Fall aus Bayern, wo der junge Mann gestorben war, wollten wir noch näher an die Zielgruppe ran. Belastend sind vor allem die Sachen, die nicht gemacht wurden, obwohl man sie hätte machen können – zum Beispiel die Rekrutierung junger Mädchen verhindern. Aber wir haben auch unsere Erfolgsbilanz: Allein in Hessen betreuen wir 75 Familienangehörige und 40 Gefährdete – und hatten keinen einzigen Rückfall. Viele konnten wir von der Ausreise abhalten. BSZ: Religiöse Diskussionen ohne ausreichende Sachkenntnis sind unmöglich. Woher haben Sie Ihr Wissen?
Mücke: Ich habe mir das Wissen seit 2006 angeeignet und bin immer noch dabei. Die Auseinandersetzung mit dem Islam ist sehr komplex. Deswegen können Jugendliche auch mit ein paar Koran-Versen manipuliert werden. Ich achte aber auch darauf, Mitarbeiter einzustellen, die eine muslimische Identität haben. Und wir haben auch sehr viele Islamwissenschaftler bei uns.

BSZ: Welcher Religion gehören Sie an?
Mücke: Ich bin ein konvertierter Atheist. Viele der Jugendlichen fragen, wie ein muslimischer Mitarbeiter mit einem atheistischen Mitarbeiter, der früher katholisch war, zusammenarbeiten kann. Damit erreichen wir bereits eine erste Verunsicherung und machen sie neugierig. (Interview: David Lohmann) Zur Person: Thomas Mücke (57) ist Pädagoge, Politologe und Mitbegründer des bundesweit tätigen Verein Violence Prevention Network.

Kommentare (1)

  1. Wähler am 12.08.2015
    Jep, ob dass die Nazis auch wissen?
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