Politik

Mehr Zuwanderer, mehr Geburten: Zukünftig wird es voller in Deutschlands Klassenzimmern. (Fotos: dpa)

11.08.2017

Schätzungen mit Risikofaktor

Schülerprognosen zeigen regelmäßig den Lehrerbedarf auf – warum nur kommen alle zu unterschiedlichen Ergebnissen?

Wie viele Lehrer werden gebraucht für welche Schulen? Das sollen Schülerprognosen vorhersagen. Eigentlich. Doch tatsächlich werden die prognostizierten Zahlen immer wieder von der Realität überholt. „Die Schüler- beziehungsweise Lehrerprognose in Bayern stimmt so gut wie nie“, schimpft Martin Güll, Vorsitzender des Bildungsausschusses im Landtag. So unterscheidet die Vorhersage der Kultusministerkonferenz (KMK) zu den Schülerzahlen im Jahr 2025 sich von denen der im Juli erschienenen Bertelsmann-Studie um stolze 1,1 Millionen Kinder und Jugendliche – eine Differenz von über 15 Prozent. Die Autoren warnen bereits, dass zehntausende Lehrer und Klassenräume fehlen werden. Warum ist der Lehrerbedarf so schwierig vorherzusagen, obwohl nach der Geburt der Kinder sechs Jahre Zeit bleibt – genauso lang, wie eine Grundschullehrerausbildung dauert?

Ein Punkt könnte die unterschiedliche Berechnung der jeweiligen Bundesländer sein. Denn wie die offizielle Prognose der KMK im Einzelnen zustande kommt, kann deren Sprecher gar nicht genau sagen. „Die Länder erarbeiten regelmäßig eigene Vorausberechnungen, wir fassen sie anschließend nur in einer Modellrechnung für ganz Deutschland zusammen“, erklärt er. Die Verfahren seien zwar ähnlich, aber in einzelnen Punkten unterschiedlich. Für einen eventuellen Lehrermangel in den Ländern sei die KMK aber nicht verantwortlich. „Die Erhebungen in den Ländern sind die jeweilige Planungsgrundlage, nicht die Zusammenfassung der KMK.“

Genau dieses „unhinterfragte Aufaddieren“ der Länderzahlen kritisiert die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). „Wie sich der von der KMK errechnete Bedarf begründet, ist völlig intransparent“, sagt GEW-Hauptvorstandsmitglied Daniel Merbitz. Auch würden der Mehrbedarf für Inklusion oder Ganztag bei den Bedarfsprognosen nicht ausreichend berücksichtigt. Selbst wenn eine Mangelsituation richtig vorausgesagt wurde, verlässt sich die KMK laut GEW darauf, dass es anderswo einen Lehrerüberschuss gebe. Genau so machten es auch die Länder. „Statt bedarfsgerecht Lehrkräfte auszubilden, haben sich offenbar viele darauf verlassen, im Zweifel anderswo Personal abzuwerben“, klagt Merbitz. Die Rechnung gehe aber nicht auf.

Abwerben statt selbst ausbilden: Diese Rechnung muss nicht aufgehen

Das bayerische Kultusministerium prognostiziert die Schülerzahlen nach eigener Darstellung in einem komplizierten Verfahren anhand der amtlichen Schulstatistik und der Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Landesamts. „Die Berechnung erfolgt in Form einer Simulation der tatsächlich verlaufenden Schülerströme, wobei die jeweiligen Schülergruppen getrennt nach Schularten und Jahrgangsstufen unter Benutzung differenzierter Eintrittsquoten, Übergangsquoten und Abgangsquoten Jahr für Jahr fortgerechnet werden“, erklärt eine Sprecherin. Zu „größeren Abweichungen“ könne es aber kommen, wenn sich die Geburtenrate ändere oder es unerwartet viel Zu- beziehungsweise Abwanderung gebe. Um die „Unsicherheiten“ möglich gering zu halten, überprüft das Ministerium nach eigenen Angaben jährlich die Prognosen.

„Die Schätzungen der vielen benötigten Parameter sind der kritischste Punkt bei der Berechnung“, erklärt Helmut Küchenhoff, Leiter des Statistischen Beratungslabors der LMU München. Er hat 2014 das Thüringer Kultusministerium bei der Erstellung der Schülerprognose unterstützt. Wie viele Schüler weitergehende Schulen besuchen, sei anhand der Zahl der Grundschüler und aktuellen Übertrittsquoten noch vergleichsweise einfach zu berechnen. „Schwierig sind die verschiedenen Größen wie die Geburtenrate sowie die Zu- und Abwanderung, die eine gewisse Unsicherheit bergen“, erklärt er. Daher müsse offener kommuniziert werden, dass jede Berechnung um ein paar Prozentpunkte abweichen kann. Küchenhoff plädiert außerdem dafür, dass sich die Bundesländer auf eine einheitliche Methodik einigen.

Die Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV), Simone Fleischmann, sieht Prognosen grundsätzlich kritisch. „Traue keiner Statistik, die du nicht selber gefälscht hast“, zitiert sie ein altes Bonmot. Schülerprognosen beruhten nie nur auf reinen Fakten, sondern hätten immer auch einen politischen Boden. „Mit Prognosen wird Politik gemacht“, ist sie überzeugt. Fleischmann prognostiziert ihrerseits für Februar 2018 einen Lehrermangel. Der resultiere aus nicht vorhandenen Lehrkräften aufgrund von Krankheit, Schwangerschaft oder Arbeitsunfähigkeit.

„Aber auch für krankheitsbedingte Unterrichtsausfälle gibt es statistische Erfahrungswerte“, mahnt der SPD-Abgeordnete Güll. Gemeinsam mit der Grünen-Fraktion im Landtag fordert er daher, den errechneten Bedarf an Lehrkräften generell um zehn Prozent zu erhöhen. Den Ausbau der Lehrerreserven fordern auch die Freien Wähler. Das Kultusministerium hält das für überflüssig. „Eine Einstellung über den Bedarf stellt eine Verwendung von zusätzlichen Steuergeldern dar und ist nicht notwendig“, sagt eine Sprecherin von Kultusminister Ludwig Spaenle (CSU). Das Personal der aktuellen mobilen beziehungsweise integrierten Lehrerreserve reiche völlig aus.

Die KMK weiß vermutlich selbst, dass ihre 2013 veröffentlichten Zahlen veraltet sind. Aufgrund der „Unschärfen“ durch die nach Deutschland zugewanderten Schüler wollte man aber bis zur Veröffentlichung der neuen Schülerprognosen waren, bis sich die Situation „stabilisiert“ hat. Die neue Vorausberechnung soll spätestens im Sommer 2018 erscheinen. Experten vermuten, dass auch die KMK zu einem deutlich erhöhten Bedarf an Lehrkräften kommt – der sich dann schlussendlich gar nicht mehr so sehr von der Bertelsmann-Studie unterscheidet. Viele Bundesländer sollten also dringend umdenken. Konkret bedeutet das: Schon jetzt mehr Lehrer einstellen. (David Lohmann)

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