Politik

Barrierefreiheit? Schön wär’s! Wegen defekter Aufzüge oder Rolltreppen müssen behinderte Menschen ihre Reise häufig vorzeitig beenden. (Foto: Getty)

19.09.2014

"Seehofers Zeitplan ist nicht zu halten"

Die Behindertenbeauftragte Irmgard Badura über Chancengleichheit, gesellschaftliche Teilhabe und den Plan der Staatsregierung, Bayern bis 2023 barrierefrei zu machen

Mitte September wurde Irmgard Badura erneut zur Behindertenbeauftragten der Staatsregierung ernannt. Zum ersten Mal seit Einführung des Amts 1995 kann sie die Politik hauptamtlich beraten. Da sie nicht weisungsabhängig ist, versteht sich die 40-Jährige als „Anwältin“ für Menschen mit Behinderung. Sie selber leidet an einer degenerativen Netzhauterkrankung. BSZ: Frau Badura, herzlichen Glückwunsch zur erneuten Ernennung zur Behindertenbeauftragten der Staatsregierung. Warum dauerte es knapp 20 Jahre, bis Ihre Stelle von einer ehrenamtlichen in eine hauptamtliche umgewandelt wurde?
Badura: Weil erst eine Änderung im Behindertengleichstellungsgesetz auf den Weg gebracht werden musste. Ich habe mich von Anfang an dafür starkgemacht, weil es meiner Ansicht nach nicht zeitgemäß ist, eine so wichtige Stelle als Ehrenamt auszuführen. Und als ich dachte, alles sei geschafft, kam noch ein 9-monatiger Rechtsstreit um die Besetzung der Stelle. Aber jetzt bin ich vor allem froh, dass ich endlich mit der hauptamtlichen Tätigkeit beginnen kann. Organisatorisch bin ich beim Sozialministerium angesiedelt. Faktisch arbeite ich aber ressortübergreifend wie eine Stabsstelle der Staatsregierung. Das ist auch für die Bewusstseinsbildung wichtig, bei den Menschen, den Verbänden und Parteien und den Ministerinnen und Ministern. BSZ: Sie verstehen sich als „Anwältin für Menschen mit Behinderung“. Was sind denn die Hauptanliegen Ihrer „Mandanten“?
Badura: Zurzeit ist vor allem die Modernisierung der Eingliederungshilfe ein großes Thema auf Bundesebene. Es gibt aber auch viele Fragen rund um geeigneten Wohnraum, das Schwerbehindertenrecht oder zu drohenden Kündigungen. Gerade kommen auch viele Lehrerinnen und Lehrer zu uns, die für dienstunfähig erklärt wurden. Da greifen wir ein und sagen, es muss mehr präventiv gearbeitet werden. Eine Behinderung kommt in den meisten Fällen ja nicht von heute auf morgen. BSZ: Wenn über Behinderte gesprochen wird, geht es meist nur um Barrierefreiheit. Was ist mit Menschen mit geistiger Behinderung?
Badura: Barrierefreiheit sieht für viele sehr unterschiedlich aus. Sie sprechen mit den sogenannten geistig behinderten Menschen nur eine Gruppe unter vielen an. Für sie braucht es sehr unterschiedliche Lebensbegleitung, teils Pflege, aber auch Unterstützung mittels geeigneter Kommunikation usw. Hierauf haben viele Einrichtungen wie Wohnheime und Werkstätten, aber auch Förderschulen geeignete Antworten. Ich fordere aber auch mehr Unterstützung in unseren Gemeinden und Städten an sich. Kürzlich haben mich sogar Museen um Unterstützung gebeten, um Exponate in „Leichter Sprache“ zu beschreiben. Das finde ich wunderbar. Die Sensibilität wächst anscheinend.
 
BSZ: Wer mit Rollstuhlfahrern unterwegs ist, steht häufig vor defekten Rolltreppen oder Aufzügen. Wie kann die für Behinderte wichtige Mobilität gewährleistet werden?
Badura: Hier gibt’s einen aufgestauten Notstand. Trotzdem wurde München von den behinderten Menschen zur „barrierefreiesten“ Stadt gewählt. Ich kann nur sagen: Dranbleiben, dass öffentliche Verkehrsmittel zunehmend barrierefrei werden und bitte immer auch Alternativwege mit einplanen, damit bei defekten Aufzügen der Umweg nicht kilometerweit ist. Ich bin ja selbst fast blind. Daher ist es für unsere Gruppe sehr wichtig, dass angesagt wird, welche Bahn einfährt oder welche Haltestelle als nächstes kommt. Das ist eigentlich Standard, aber nicht verlässlich. BSZ: Öffentliche Schulen erhalten pro blindem Schüler und Schuljahr lediglich ein kostenloses Schulbuch in Blindenschrift. Ist das die vielgepriesene Chancengleichheit an Schulen und Hochschulen?
Badura: Nein, natürlich nicht. In der Praxis scheint das aber kein Problem zu sein. BSZ: Ministerpräsident Horst Seehofer hat angekündigt, Bayern bis 2023 barrierefrei zu machen. Bisher gibt es allerdings keine Erhebungen, wie viele behindertengerechte Schulen, Rathäuser, Polizeidienststellen oder Lebensmittelgeschäfte es gibt. Ist der Zeitplan realistisch?
Badura: Ich habe von Anfang an Herrn Ministerpräsidenten gesagt, dass ich diesen Zeitplan für sehr ambitioniert halte. Ich empfinde dieses Ziel – stellvertretend für viele Menschen – als ein gut gemeintes, aber nicht zu haltendes Versprechen. Trotzdem bin ich dankbar für den Rückenwind, den er damit dem Thema gegeben hat. Längst ist es Aufgabe aller Ebenen, mitzumachen. Die Kommunen sollten auch weiter bei der Umsetzung sein – Barrierefreiheit im öffentlichen Raum und im Wohnungsbau ist nicht neu. BSZ: In Ihrer letzten Amtszeit monierten Sie die niedrigen Quoten bei der öffentlichen Auftragsvergabe an Behindertenwerkstätten und Integrationsfirmen. Hat sich hier etwas getan?
Badura: Es geht immer wieder auf und ab. Wir haben inzwischen für die Werkstätten eine bayernweite Info-Plattform im Internet aufgelegt, in der sich alle Einkäufer der Ministerien und Dienststellen leicht informieren können. Insgesamt sollte Bayern aber noch mehr für Integrationsfirmen und Projekte tun, die am allgemeinen Arbeitsmarkt stattfinden. BSZ: Obwohl es immer mehr Schwerbehinderte gibt, lag die Quote bei den 25- bis 35-Jährigen im öffentlichen Dienst bei nur 1,4 Prozent. Werden der Freistaat und die Privatwirtschaft ihrer Pflichtquote von fünf Prozent bei der Einstellung behinderter Menschen gerecht?
Badura: Es ist nun einmal so, dass die meisten körperlichen Beeinträchtigungen erst im höheren Lebensalter auftreten. Daher ist die Zahl nicht ungewöhnlich. Trotzdem erinnere ich immer daran, dass es so viele Abgänger aus den Förderschulen, Berufsbildungswerken, aber zunehmend auch aus Regelschulklassen gibt, die mit ihrer Behinderung gelernt haben zu leben, im Beruf ihre Frau oder ihren Mann stehen und eine Chance brauchen. Es gibt aber noch häufig Berührungsängste. Ich hoffe, dass uns hier auch der leergefegte Ausbildungsmarkt und der Fachkräftemangel helfen. BSZ: Kürzlich fand in München die Elektrorollstuhl-Weltmeisterschaft statt. Dennoch sehen die Spieler mangels finanzieller Unterstützung ihren Sport als „gefährdet“ an. Wie sieht die Unterstützung für Freizeitaktivitäten aus?
Badura: Schwieriges Kapitel. Es gibt Richtlinien, um Sport, Kunst und Kultur zu fördern – diese sind finanziell zu oft zu schlecht hinterlegt. Hier verfahre ich nach dem Motto „steter Tropfen höhlt den Stein“.       BSZ: Sind dabei auch die Krankenkassen gefordert? Diese zahlen nur für Dinge, die Behinderte benötigen, um am Leben in der Gemeinschaft teilhaben zu können. Der Sport gehört bisher nicht dazu.
Badura: Furchtbar. Natürlich sehe ich die Krankenkassen da in der Pflicht – sogar sehr. Auch dafür sind sie da, denn gerade auch durch Sport ist ein Umgang mit der körperlichen Beeinträchtigung ein gut geeignetes Mittel, Erfolge für sich selbst, aber auch durch Wettkämpfe in der Gesellschaft zu erzielen. Stichwort: Special Olympics und Paralympics!
 
BSZ: Sie selber sind auch sportlich. Bleibt Ihnen bei Ihrer neuen hauptamtlichen Tätigkeit noch Zeit zum Tandemfahren?
Badura: Ich hoffe es, aber durch das viele Unterwegssein wird es sicher schwierig. Das heißt für mich aber auch ein Stück mehr Disziplin am Home-Trainer: Vielleicht morgens eine halbe Stunde eher aufstehen?! (Interview: David Lohmann)

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