Für Philip Kovce ist der Fall klar: „Die gegenwärtigen Herausforderungen – angefangen bei der Armutsbekämpfung bis hin zur Zukunft der Arbeit – sind längst unparteiisch, überparteiisch geworden.“ Und der mündige Bürger sei das auch: „Er will nicht bloß alle paar Jahre seine Erziehungsberechtigten wählen, sondern Sachfragen frei entscheiden und sich selbstbestimmt vertreten lassen“, sagte der Philosoph und Wirtschaftswissenschaftler dem Deutschlandfunk und fügte hinzu: „Genau deshalb ist es an der Zeit, dass wir auch auf Bundesebene endlich volljährig werden und Volksabstimmungen einführen.“ Er spricht gar von einer „Entmündigung der Bürger“. Kovce, der dem renommierten Club of Rome angehört, argumentiert zwar besonders radikal für Volksentscheide auf Bundesebene, doch die Forderung, die er vertritt, wird immer populärer.
Bereits Anfang 2015 hatten sich fast drei Viertel der Bürger bei einer Umfrage für Volksbegehren und Volksentscheide auch auf Bundesebene ausgesprochen. Und seit sich Ende vergangenen Jahres auch mehr als zwei Drittel der CSU-Mitglieder für Volksentscheide auf Bundesebene ausgesprochen haben, hat die Debatte massiv an Fahrt aufgenommen. Horst Seehofer ist schon länger ein Fan deutschlandweiter Plebiszite. „Bürgerbeteiligung ist der Kern moderner Politik“, so das Argument des CSU-Chefs. Das gelte auch für große Fragen wie eine Änderung des Grundgesetzes oder in der Europapolitik.
Widerstand kommt jedoch nach wie vor von Seiten der CDU. Die SPD konnte sich mit ihrer Forderung nach mehr direkter Demokratie in der Großen Koalition nicht gegen Bundeskanzlerin Angela Merkel und CDU-Parteigranden durchsetzen. Die Genossen hatten sich bereits 2011 auf einem Parteitag für Volksentscheide auf Bundesebene ausgesprochen. Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) ist überzeugt, direkte Demokratie führe zu einem besseren Dialog zwischen Politikern und Bürgern. Und der sei „dringend notwendig“.
Grüne und Linke hatten in der Vergangenheit mehrfach erfolglos im Bundestag die Einführung von bundesweiten Volksentscheiden gefordert, hatten dafür jedoch die erforderliche Mehrheit nicht erreicht. Bei der AfD steht der Wunsch nach Einführung von „Volksentscheiden nach Schweizer Modell“ im Grundsatzprogramm.
Doch viele Experten sehen derlei Forderungen kritisch. „Das Problem ist, dass es in der Regel um komplizierte Gesetzesvorhaben geht, bei denen man oft nicht schlicht mit Ja oder Nein antworten kann“, sagt der renommierte Historiker Horst Möller. So sei etwa die Frage des Brexit „so kompliziert, dass selbst Experten Probleme haben, die milliardenschweren Folgen für Großbritannien vernünftig zu erfassen“. Auch gehe es bei den „Debatten vor Volksentscheiden mitunter nicht um das eigentliche Thema“. Beispielsweise sei etwa in Frankreich der EU-Vertrag von Lissabon 2005 „vor allem deshalb abgelehnt worden, weil der unbeliebte Staatschef Jacques Chirac dafür war“, sagt der frühere Leiter des Münchner Instituts für Zeitgeschichte der Staatszeitung.
Möller begründet seine Ablehnung auch damit, dass Volksentscheide in der Weimarer Republik stets „agitatorisch und antidemokratisch“ eingesetzt worden seien. Er vergleicht zwar Berlin nicht mit Weimar, doch er sagt auch: „Die Gefahr populistischer Meinungsmache ist in Europa noch immer sehr hoch. Das haben wir gerade beim Brexit wieder gesehen.“
Auch Ursula Münch, Direktorin der Akademie für Politische Bildung, übt Kritik: „Ich halte eine Stärkung der direkten Demokratie auf Bundesebene für völlig kontraproduktiv, weil das die repräsentative Demokratie noch weiter schädigen würde.“ 20 Prozent der Wähler entschieden erst am Vormittag der Bundestagswahl, bei welcher Partei sie ihr Kreuz machen. „Wollen wir diesen Leuten zumuten, sich mit so komplexen Themen wie der europäischen Integration oder der griechischen Schuldenpolitik zu beschäftigen?“
Die Schweiz als Vorbild?
Laut dem Politologen Möller würden solche Abstimmungen auch nicht nicht die Demokratieverdrossenheit abmildern. CSU-Chef Seehofer hofft jedoch, dass Entscheidungen durch die Bürger große Themen „befrieden“ könnten. Dass dies tatsächlich funktionieren kann, zeigt das Beispiel Stuttgart 21. Aufgrund der heftigen Proteste sah es lange so aus, als sei die baden-württembergische Bevölkerung mehrheitlich gegen das Mega-Projekt, das für das Land von großer Bedeutung ist. Dann stimmte eine Mehrheit dafür, der Streit ist seither weitgehend beigelegt. Möller warnt allerdings: Die Politiker könnten durch Volksentscheide auf Bundesebene unangenehme Entscheidungen aus ihrem Bereich abschieben: „Später können sie dann, wenn es schiefgeht, sagen: Wir waren ja dagegen, aber das Volk hat sich anders entschieden.“
Allerdings: Die Schweiz praktiziert seit Jahrhunderten erfolgreich direkte Demokratie – und doch gilt das Land als Hort der Stabilität. Möller lässt das nicht gelten: „Die Schweiz lässt sich mit großen Flächenstaaten wie Deutschland, in denen heterogene Industriegesellschaften existieren, nicht vergleichen.“
Die Liberalen sind in Bayern in der Frage der Volksentscheide auf Bundesebene derweil gespalten. Bereits 2012 hatte die damalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger deren Einführung gefordert. Der bayerische FDP-Chef Albert Duin aber sagte jüngst der BSZ, er sei skeptisch. „Da gehen Leute hin, die etwas verhindern wollen, die anderen, die dafür sind, bleiben daheim.“ Er halte die parlamentarische Demokratie, „bei der Politiker Verantwortung übernehmen, für eine perfekte Regierungsform“.
Würde im Herbst eine schwarz-gelbe Koalition die Mehrheit im Bund erringen, würden die Liberalen jedoch mehrheitlich zu den Befürwortern von mehr direkter Demokratie gehören. Ein Umdenken von CDU-Chefin Merkel ist dann durchaus möglich – mehrmals hatte sie in den vergangenen Jahren für die CDU lange identitätsstiftende Positionen wie die Wehrpflicht und das Nein zur Homo-Ehe gekippt.
Allerdings glauben auch viele Befürworter direkter Demokratie nicht, dass sich damit die Gesetzesfindung wesentlich ändern dürfte. Nur einer von fünf Deutschen gab 2015 bei einer Umfrage an, die Bürger hätten durch Volksentscheide auf Bundesebene „sehr viel mehr Einfluss auf politische Entscheidungen“. (Tobias Lill)
Kommentare (3)