Politik

Ob Schüler Planspiele wie „Der Landtag sind wir!“durchführen, hängt immer vom persönlichen Engagement der Lehrkräfte ab. (Foto: dpa)

20.02.2015

Wandel durch Mitbestimmung

Bildungspolitiker und Politikwissenschaftler fordern mehr Politikunterricht im Freistaat – doch Staatsregierung und sogar die Landeszentrale für politische Bildung sind dagegen

Reichen 90 Minuten in der Woche aus, um Schülern tagesaktuelle Politik und die Gesamtzusammenhänge zu erklären? Nein, meint die SPD und möchte das Fach Sozialkunde an bayerischen Schulen ausweiten. Doch trotz prominenter Unterstützung wiegelt das Kultusministerium ab: „Man darf Kinder nicht überfordern.“
Wer Erstwähler fragt, für was die Abkürzung SPD steht, erhält zum Teil abenteuerliche Antworten: Soziapolitische Demokratie? Städtische Partei Deutschlands? Sächsische Politische Demokratie? „Die politische und ethische Vorbildung der Jugendlichen ist oft erschreckend“, erklärt der Vorsitzende des Bildungsausschusses, Martin Güll (SPD). So verwundert es nicht, dass es bei der Landtagswahl in Bayern nur 40 Prozent der Erstwähler an die Urne schafften – früher waren es fast 70 Prozent. In Sachsen wählten sie sogar die NPD nach der CDU zur zweitstärksten Partei. „Politische Rattenfänger haben bei den Kindern und Jugendlichen immer dann leichtes Spiel, wenn wenig politische Vorbildung oder Hintergrundwissen vorhanden sind“, ergänzt Güll.

Die SPD-Fraktion fordert daher, mehr Raum und Mittel für tagesaktuelle Politik sowie praktische Politikerfahrung an Bayerns Schulen. Angesichts der weltweiten Konflikte sei es dringend notwendig, tagesaktuelle Politik und die Gesamtzusammenhänge stärker im Unterricht zu behandeln, betont Güll. „Dafür reicht einfach eine Stunde Sozialkunde wie im Gymnasium nicht aus.“ Momentan hänge es zudem vielfach ausschließlich vom persönlichen Engagement einzelner Lehrkräfte und Schulleiter ab, ob brisante Themen diskutiert oder Planspiele durchgeführt würden.

Im Freistaat wird Politik im Fach Sozialkunde und fächerübergreifend in Geschichte, Religion, Deutsch oder Erdkunde aufgegriffen. Dafür sind je nach Schulart insgesamt zwei bis drei Wochenstunden vorgesehen. Laut Kultusministerium bestehen allerdings Spielräume, die für Projekte, Studientage, Planspiele oder Exkursionen genutzt werden können. Aktuelle Ereignisse könnten innerhalb des Lehrplans, der regelmäßig aktualisiert wird, flexibel aufgegriffen werden. Eine Ausweitung des Politikunterrichts ist daher nicht geplant. „Bei allen Forderungen nach zusätzlichen Unterrichtsstunden sollte man nicht übersehen, dass junge Menschen nicht überfordert werden dürfen“, begründet eine Sprecherin von Kultusminister Ludwig Spaenle (CSU) die Entscheidung.

Die Direktorin der Akademie für politische Bildung in Tutzing, Ursula Münch, attestiert der bayerischen Schulpolitik zwar einen hohen Anspruch. „Die tatsächliche Stundenausstattung ist fast in allen Schulen jedoch deutlich zu niedrig, um diesen Zielen tatsächlich gerecht zu werden“, sagt sie der Staatszeitung. So erhielten beispielsweise zirka zwei Drittel der bayerischen Gymnasiasten nur ein Achtel der Unterrichtsstunden nordrhein-westfälischer Gymnasiasten. „Hinzu kommt, dass in Bayern gerade beim Sozialkundeunterricht an den Gymnasien eher Wissensvermittlung und kognitive Lernziele im Vordergrund stehen“, erläutert sie. Das Ziel der politischen Mündigkeit und Urteilskraft der Schüler spiele dabei keine große Rolle.

„Lernen, prüfen, benoten, vergessen"

Einen sachlichen Diskurs, wie politische Bildung im 21. Jahrhundert gelingen kann, wünscht sich auch der Präsident des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands, Klaus Wenzel. Dabei gehe es nicht um eine Stunde Sozialkunde mehr oder weniger, sondern um Grundsätzliches: „Lernen, prüfen, benoten, vergessen – momentan werden die Schüler von morgen in einem System von gestern unterrichtet“, schimpft er. Bei den Pisa-Studien werde lediglich Können und Wissen gemessen, nicht aber die Bildung. „Dabei ist politische Bildung der Schlüsselbereich, wenn aus Schülern starke Demokraten werden sollen“, verdeutlicht Wenzel, der auch Mitglied des Fördervereins Demokratisch Handeln ist.

Für eine Ausweitung spricht sich auch Politkwissenschaftler Markus Gloe von der Lehreinheit Didaktik der Sozialkunde der Ludwig-Maximilians-Universität in München aus. „Demokratie lebt von Beteiligung“, unterstreicht er. Daher bräuchten Schüler gerade in Zeiten von Politikverdrossenheit entsprechende Kompetenzen. „Ein bis zwei Stunden Sozialkunde sind aber deutlich zu wenig Zeit, um in die Tiefe zu gehen.“ Und statt Planspiele durchzuführen würden viele Lehrer einfach nur Frontalunterricht halten. Das Ergebnis sieht er bei den Studienanfängern: Manche hätten zwar gute, manche aber leider auch weniger gute Vorkenntnisse.

Auch die anderen Oppositionsparteien im Landtag begrüßen den SPD-Vorstoß. Schüler könnten politische Zusammenhänge nur lernen, verstehen und ausprobieren, wenn dafür eine ausreichende Zahl an Unterrichtstunden in der Stundentafel vorhanden sei, betont der bildungspolitische Sprecher der Freien Wähler, Günther Felbinger. „Das Fach Sozialkunde spielt im Fächerkanon aber derzeit leider nur eine untergeordnete Rolle.“ Vor allem an Realschulen und Mittelschulen findet seiner Meinung nach derzeit viel zu wenig statt. Damit eine Schule insgesamt als demokratisch erlebt wird, fordert er außerdem eine bessere Feedback-Kultur innerhalb der Schulfamilie. Deutlichere Worte wählt der grüne Bildungsexperte Thomas Gehring: „Der Politikunterricht wird von der Staatsregierung vernachlässigt“, klagt er. Wie Felbinger wünscht er sich eine „Demokratisierung der Schule“ mit umfassender politischer Bildung der Schüler aller Schularten und die Einübung demokratischer Handlungsweisen zum Beispiel durch mehr Mitbestimmung.

Die CSU-Fraktion sieht allerdings wie das Kultusministerium keinen Handlungsbedarf. „Wir würden die pädagogische Arbeit unserer Lehrkräfte deutlich unterschätzen, wenn wir davon ausgingen, dass aktuelle Ereignisse wie die Terroranschläge in Paris und Kopenhagen oder die Ukraine-Krise auch jenseits des Fachs Sozialkunde im Unterricht nicht thematisiert werden“, sagt der Vorsitzende des CSU-Arbeitskreises Bildung und Kultus Gerhard Waschler der BSZ. Auch die dem Kultusministerium unterstellte Landeszentrale für politische Bildungsarbeit hält eine Änderung der Stundentafel für undurchführbar. Stattdessen sollte laut Direktor Harald Parigger mehr Projektunterricht gemacht, Simulationstechniken geübt, Planspiele durchgeführt, der Kontakt zur Politik gesucht und demokratische Formen im Rahmen einer erweiterten Schülermitbestimmung erprobt werden. Den SPD-Vorstoß lehnt er daher ab: „Können Sie sich die Elternreaktion bei einer Aufstockung vorstellen?“, fragt Parigger. „Oder würden Sie allen Ernstes eine Stunde Mathe, Deutsch oder auch Musik preisgeben?“ (David Lohmann)

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