Politik

Sexueller Missbrauch beim Sport war lange ein Tabu-Thema. Foto Bilderbox

14.05.2010

Wenn der Coach zu nah kommt

Auch in den Jugendabteilungen der Fußballclubs könnte die Dunkelziffer an Missbrauchsopfern hoch sein

Nicht nur für die Kirchen ist sexueller Missbrauch ein massives Problem. Experten gehen davon aus, dass auch in Bayerns Sportvereinen die Dunkelziffer von jugendlichen Opfern sexueller Gewalt hoch sein könnte. Die Verbände versuchen mit Aufklärungsprogrammen gegenzusteuern – deren Finanzierung ist bislang jedoch nicht gesichert.
Der eine oder andere Fußball-coach hatte es wohl geahnt, dass mit Stefan Scherr (Name geändert) etwas nicht stimmen könnte. „Doch wer konnte schon sicher sein, dass er wirklich eine pädophile Neigung hat?“, fragt ein ehemaliger Trainerkollege des Mannes, der wegen sexueller Belästigung von Kindern im vergangenen Jahr zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde. Über Jahre hinweg hatte Scherr in einer Reihe von Vereinen in Südbayern Jugendmannschaften betreut.
Zwar soll Scherr häufiger gemeinsam mit Kindern seines Teams geduscht haben, erinnert sich der Coach. Und ja, auch von versuchten Bussis auf den Mund der Spieler sei die Rede gewesen. „Doch das waren Gerüchte“, sagt der Trainer. Dass Scherr bereits eine einschlägige Vorstrafe hatte, wusste zu diesem Zeitpunkt niemand. Denn ein Führungszeugnis des Betreuers hatte der Verein – wie bei vielen Clubs üblich – bei dessen Antritt nicht eingeholt. Irgendwann verließ Scherr schließlich den Verein. Jahre später konnte man in der Zeitung lesen, dass er wegen sexueller Belästigung von Kindern verurteilt wurde. In dessen früherem Verein reagierte man betroffen. Es kam die Frage auf: „Hätten die späteren Taten verhindert werden können?“
Kein Einzelfall. „Sexueller Missbrauch bei Sport- und insbesondere Fußballvereinen ist leider noch immer viel zu oft ein Tabuthema“, sagt Manuel Naumann(Name geändert), der viele Jahre Jugendleiter eines großen oberbayerischen Sportvereins war. Das Problem: Manche Klubs hätten Angst vor einem Imageschaden, wenn sie solche Geschehnisse öffentlich machten. Allein in seiner Zeit als Jugendleiter habe es in der Fußballabteilung drei Verdachtsfälle gegeben, erinnert sich Naumann.
Einmal soll ein Trainer einer C-Jugendmannschaft bei einer Auslandsfahrt ein Kind missbraucht haben. Unter dem Vorwurf, seinen Hotelschlüssel vergessen zu haben, habe er bei den Kindern im Zimmer übernachtet. Dann sei es, wie Jugendliche ihm erzählten, zu sexuellen Handlungen mit einem Jungen unter 16 Jahren gekommen. Anzeige erstattete aber niemand. „Die Eltern wollten nicht zur Polizei, um ihrem Sohn einen Prozess zu ersparen“, sagt Naumann, der überzeugt ist: „Bei Sportvereinen übersteigen die Missbrauchszahlen sogar noch die bei der kirchlichen Jugendarbeit.“
Auch Martina Kobriger, Präsidentin des Bayerischen Jugendrings (BJR), geht von einer „hohen Dunkelziffer“ an Missbrauchsfällen in Sportvereinen aus. „Es würde mich wundern, wenn das nur Einzelfälle sind“, sagt sie. Schließlich gebe es beim Sport eine „hohe Körperlichkeit“. So seien etwa beim Turnen, aber ebenso beim Fußball Übungen alltäglich, in denen ein Betreuer seinem Schützling Hilfestellungen geben muss. Und so etwas biete eben Möglichkeiten. Zudem ziehe die Jugendarbeit auch Pädophile an.
Wolfgang Ballester, Bildungsreferent der Bayerischen Sportjugend (BSJ) schätzt dagegen, dass die „Dunkelziffer“ von Missbrauchsopfern in Sportvereinen „nicht höher als die in der restlichen Jugendarbeit ist“.
Rund 1,5 Millionen Mitglieder in Bayerns Sportvereinen sind jünger als 18 Jahre. Studien zufolge soll jeder siebte Bub im Freistaat bereits Opfer sexueller Gewalt geworden sein. „alle Gsellschaftsbereiche sind betroffen“, sagt Kobriger. Sie glaubt, dass im Zuge der Debatte um die kirchlichen Missbrauchsfälle auch im Sport die Mauer des Schweigens bröckeln könnte. Tatsächlich scheinen sich bundesweit die Fälle, in denen Opfer sexuellen Missbrauchs in Sportvereinen an die Öffentlichkeit gehen, zu häufen. Erst vor wenigen Tagen wurde ein 46-jähriger Fußballtrainer im nordrhein-westfälischen Balve wegen mehrfachem sexuellen Missbrauch zu einer Haftstrafe verurteilt. Das Schweigen des 13-jährigen Jungen wollte sich der mutmaßliche Täter mit dem Kauf von Videospielen erschleichen.
Bereits im März stand ein ehemaliger Betreuer einer Fußballmannschaft wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern vor dem Münchner Landgericht. Der 32-Jährige soll sich im Jahr 2002 an einem damals 14 Jahre alten Spieler der C-Jugend eines Clubs im Landkreis Fürstenfeldbruck vergangen haben. Und 2009 wurde ein ehemaliger Jugendtrainer vom TSV Haar und TSV Feldkirchen wegen sexueller Nötigung in sechs Fällen zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Die betroffenen Buben waren zwischen acht und neun Jahre alt. Der Coach soll mit ihnen nackt geduscht und dabei ein erigiertes Glied gehabt haben.
Im bayerischen Justizministerium existieren keine genauen Statistiken zur Höhe der polizeilich erfassten Missbrauchsfälle in Vereinen. „Uns werden immer wieder punktuell Einzelfälle bekannt“, sagt ein Sprecher. Hinzu komme eine „unbestimmte Dunkelziffer“.
Beim bayerischen Fußballverband nimmt man die Missbrauchsproblematik ernst. Geschäftsführer Jürgen Igelspacher sagt: „Wir raten jedem Verein zu Vorsichtsmaßnahmen.“ So sei es sinnvoll, Jugendmannschaften stets von zwei Trainern betreuen zu lassen. „Außerdem schließen wir betroffene Personen aus dem Verband aus.“ Diese könnten dann in keinem anderen Verein im Freistaat mehr Mitglied werden. Doch viele Männer, die als Betreuer arbeiten, sind gar nicht Club-Mitglied. Denn die meisten Vereine sind froh, überhaupt Ehrenamtliche zu finden.
Wer allerdings einen Jugendleiter-Lehrgang macht, wird intensiv im richtigen Umgang mit Kindern geschult. „Das ist mittlerweile ein verpflichtender Teil der Ausbildung“, sagt BSJ-Mann Ballester. Bewährt hat sich offenbar das BJR-Projekt „PräTect“. Es soll Strukturen in den Jugendverbänden schaffen, die helfen sollen, Übergriffe zu verhindern. Alle fünf Landtagsfraktionen setzen sich deshalb für eine Fortsetzung dieser Arbeit ein. Und auch das bayerische Kultusministerium fordert, die Finanzierung des demnächst auslaufenden Projekts zu erhalten. Doch ob es mit Blick auf leere Kassen dazu kommt, ist ungewiss. (Tobias Lill)

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