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Wälzen auf dem Boden, Stellungen, die „Geschlechtsverkehr oder Unzuchtshandlungen“ andeuten: So ganz hielt sich die Regie nicht an die Vorgaben der Sittenwächter bei der Münchner Uraufführung des Musicals Hair im Oktober 1968. (Foto: SZPhoto)

15.09.2017

Haarige Spektakel

München steht Kopf: Was alte Polizeiakten über legendäre Rock-Konzerte der Endsechzigerjahre verraten

Es muss ein ganz großes Ding gewesen sein, am 24. Oktober 1968 in der Brienner Straße in München. Schon im Vorfeld hatten die Organisatoren die Polizei gewarnt, es könne zu Demonstrationen und Tumulten kommen an diesem Tag. Außerdem werde vermutlich Henry Fonda kommen. „Die Möglichkeit für etwaige Ausschreitungen könnte gegeben sein“, steht in den Protokollen der Polizei über die ersten Treffen im Vorfeld der Veranstaltung. Der Veranstalter wollte Polizeischutz für die rund 600 Ehrengäste, von denen 450 mit einem eigenen Kraftfahrzeug vorfahren wollten. „Am Haupteingang wird ein Baldachin aufgebaut, entlang des Weges sollen Fackelträger stehen“, außerdem werde ein „kleines bengalisches Feuerwerk abgebrannt werden“. Die Polizei hält dafür eine Einsatzhundertschaft bis 3 Uhr nachts in Bereitschaft, stellt einen Fototrupp, 40 Sperrgitter werden aufgebaut. Von heute aus betrachtet ist das Spektakel, das vor fast 50 Jahren dort ablief, eher niedlich. In den Polizeiakten von damals geht es nämlich nicht um die Sicherheitskonferenz oder eine politische Großdemonstration, sondern um die Deutschland-Premiere von Haare, der deutschen Version des Musicals Hair. Und was da in den Polizeiakten steht, ist weniger ein Dokument der Polizeiarbeit von damals als vielmehr ein wunderschönes und teils urkomisches Sittengemälde der Bundesrepublik in den späten 1960er Jahren.
Dabei ist noch nicht einmal die Polizei der strengste Sittenwächter von damals, sondern das Münchner „Amt für öffentliche Ordnung“. Das erteilte dem Veranstalter zwar eine Genehmigung für die Aufführung – aber nur unter strengen Auflagen. „Ausfallend wirkende oder auf Beischlafs- oder Unzuchthandlungen abgestimmte Vortragstexte oder Lieder dürfen nicht verwendet werden.“ Auch die „Entblößung der Geschlechtsmerkmale ist verboten“, ebenso „Körperstellungen, die Geschlechtsverkehrs- oder Unzuchtshandlungen andeuten. Demnach ist das Wälzen von drei Personen auf dem Bühnenboden zu unterlassen.“ Man rechnete natürlich mit einem Skandal, denn man wusste aus der Originalversion des Stücks in etwa, was bei dem Hippie-Musical auf einen zukam – und versuchte, das Musical den deutschen Moralvorstellungen anzupassen. Natürlich hielt sich der Regisseur nicht sklavisch an die Auflagen, und der Veranstalter kassierte prompt ein Bußgeld von 1000 Mark wegen „unzüchtiger Szenen“, denn die zuvor ausgesprochenen Verbote seien ignoriert worden. Zudem wurde dem Stück grundsätzlich abgesprochen, Kunst oder ein Theaterstück zu sein. „Hair ist eine Revue, wir haben im Brockhaus nachgelesen“, wird ein Mitarbeiter des Amts für öffentliche Ordnung in der Bild zitiert. „Was ein Theaterstück ist, entscheidet die Stadt München.“ So etwas könne man auf der Reeperbahn aufführen, aber nicht in München. Die Unterscheidung war deshalb von ausschlaggebender Bedeutung, weil für eine Revue eine formelle Genehmigung des Amtes notwendig war – für ein Theaterstück dagegen nicht. Die Situation eskalierte, sogar ein Verbot des Stückes war in der Diskussion. Der Veranstalter wiederum legt Widerspruch gegen den Bußgeldbescheid ein. Die Entscheidung: Das Musical geht als Theaterstück durch, wird aber in Teilen entschärft. Die Polizei wiederum gibt sich in ihren Berichten relativ cool: „Die Aufführung fand großen Anklang“, steht in den Akten. Aber da dem zuständigen Beamten vom Amt für öffentliche Ordnung aufgetragen worden war, er solle peinlich genau darauf achten, ob Mitglieder des Ensembles bei Nacktszenen „ohne Höschen“ auftreten, protokolliert er brav, er habe die Darsteller „10 Sekunden vollkommen nackt (ohne Höschen)“ gesehen. „Danach erlosch das Licht.“ Die Posse um die Aufführung dürfte das Interesse an Haare noch weiter befördert haben. Schon vier Tage vor der Premiere waren zehn Aufführungen mit je 1000 Plätzen ausverkauft, berichtet Bild. Nach der Premiere macht sich allerdings der Münchner Merkur über das Schickeria-Publikum lustig. Tenor: „Die wissen gar nicht, was sie da beklatschen.“ Und wenn man sich heute noch einmal die deutsche Hair-Version anhört, fragt man sich in Tat, ob sich die Veranstalter mit der deutschen Version einen so großen Gefallen getan haben. Die Texte sind nämlich in der Tat zum Fremdschämen. Und zwar nicht wegen der sexuellen Implikationen. Sondern weil das, was da gesungen wird, teils an deutsche Schlager erinnert. Und heute auch nicht mehr gesungen werden könnte. Da kommen nämlich etliche Wörter und Passagen vor, die sich inzwischen aus Gründen der political correctness verbieten – ganz ohne ein Amt für öffentliche Ordnung. Recherche in Polizeiakten: Auf dem Tisch im Staatsarchiv München liegen ein paar Aktenstapel: Polizeiakten aus den Jahren 1968 bis 1973. Solange sie keinen Sperrvermerk haben, kann man sie einsehen. Zum Beispiel zum Thema „Rockmusik der 70-er im Spiegel der Polizeiakten“. Die Quellenlage ist ergiebig. Nicht nur, weil die Akten Aufschlüsse darüber zulassen, wie man Rockmusik damals wahrgenommen hat. Sondern auch, weil die Beamten nicht nur die Vorfälle um das Konzert herum protokollierten, sondern auch, weil sie die Stimmung erfreulich anschaulich beschreiben. Die Akten riechen natürlich erheblich nach dem Geist ihrer Zeit. Da werden viele Durchschläge und handschriftliche Dokumente aufbewahrt, auch Fernschreiben sind in den Akten zu finden. Allgemein ist zu spüren, dass solche Großveranstaltungen den Behörden Angst machten – schließlich hatte man damals kaum Erfahrungen mit Konzerten dieser Größenordnung. Die Olympiahalle stand erst ab 1973 für Rockkonzerte zur Verfügung. Und ein nach heutigen Maßstäben kleines Konzert wie das „Euro-Pop“ am 10./11. Juli 1970 in der Eissporthalle Oberwiesenfeld (heutiger Olympiapark) sorgte für große Unsicherheit bei den Behörden, obwohl an den zwei Tagen nur jeweils rund 7000 Besucher da waren. Kein Vergleich zu den großen Open-Air-Konzerten von heute. Es traten damals zwar an den beiden Tagen 22 Bands auf – darunter Deep Purple, Black Sabbath, Free und Status Quo – aber es muss erstaunlich ruhig geblieben sein. Es gab zwar immer wieder kleinere Versuche, das Konzert zu stürmen, aber trotz der „heißen Rhythmen“ sei abends „eine gewisse Müdigkeit beim Publikum zu spüren“ gewesen, heißt es in den Polizeiakten. Das Publikum war nach den vielen Auftritten derart ermattet, dass man teilweise befürchten musste, die jungen Leute nicht mehr in wachem Zustand aus der Halle hinauszubekommen. Vielleicht war die Musik aber auch schlicht zu leise: Kaum 40 Dezibel stellte die Polizei nach 22 Uhr bei Anliegerwohnungen fest. In der heutigen Zeit, in der man ein Open-Air-Konzert im Olympiastadion auch schon mal bei richtiger Windrichtung in Unterhaching hören kann, war das eine eher harmlose Lautstärke. Dennoch liest man aus den Unterlagen heraus, dass die Grundstimmung der Sicherheitsbehörden rund um diese frühen Rockkonzerte sehr besorgt war: Die Angelegenheit könnte ja entgleisen. Man fürchtet sich vor Rockern, Rauschgiftkonsum und allgemeiner Jugendgefährdung. Beim Auftritt der Rolling Stones 1973 in der Olympiahalle zum Beispiel versprach der Veranstalter: „Die lärmenden und aufreizenden Rhythmen aus der Zeit von 1962 bis 1969 werden zur Vermeidung von Störungen nicht in das Programm aufgenommen.“ Außerdem spielte man Street Fighting Man zur Beruhigung des Publikums bei voller Saalbeleuchtung. Allerdings wies der Veranstalter warnend darauf hin, dass die Stones „die Phonzahlen aller bisher dagewesenen Konzerte übertreffen“ werden. Die Polizei ließ das Konzert trotzdem kalt. Sie notierte nach Ende der Veranstaltung: „Während die Popmusikkenner Billy Preston (der Support-Act, d. Red.) allgemein lobten, war man von den Rolling Stones offenkundig enttäuscht.“ Und auch sonst verlief die Veranstaltung größtenteils harmlos: „Generell war fast keinerlei Rauschgiftgeruch wahrzunehmen.“ (Gerrit Faust) Abbildung:
Anno 2017 war das Münchner Publikum aus dem Häuschen, als die Rolling Stones im Olympia Stadion auftraten - 1973 war es eher verhalten: Die Fans waren von den „bad boys“ eher enttäuscht, notierten damals Polizeibeamten. (Foto: BSB Bildarchiv)

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