Unser Bayern

21.10.2011

In der Gebirgsidylle komponierte er die Oper „Der feurige Engel“

Auf den Spuren von Sergej Prokofiew im oberbayerischen Klosterdorf Ettal

Man schreibt den 16. Dezember 1921: Sergej Prokofiew spielt in Chicago die Uraufführung seines 3. Klavierkonzerts, vierzehn Tage später gibt es dort konzertant „Die Liebe zu den drei Orangen", im Oktober sein Violinkonzert Nr. 1 unter dem berühmten Dirigenten Sergej Kussewitzky in Paris, weitere Termine in St. Petersburg und Moskau: Weltstädte als Stationen einer fulminanten Komponisten- und Pianistenkarriere. Aber Sergej Prokofiew im oberbayerischen Klosterdorf Ettal? Was man kaum für möglich hält, stimmt: zumindest für 1922/23, zwar unterbrochen durch Konzertreisen ins übrige Europa, aber bezeugt durch eine Gedenktafel am Haus Werdenfelser Straße 6. „Ich arbeite hier seit 20 Jahren, und mich hat noch niemand danach gefragt !": Die Dame in der Touristeninformation ist also keine Hilfe bei der Suche nach den Spuren von Sergej Prokofiew in Oberbayern, auch nicht die Nachbarin in der Werdenfelser Straße 11, schon gar nicht die Patres im Klosterbuchladen von Ettal, die auf Journalisten-Nachfragen sehr zugeknöpft reagieren. Aber schließlich findet man die Nr. 6, das „Christophorus-Haus": das Grundstück direkt an der viel befahrenen Bundesstraße, dahinter aber tut sich ein idyllischer Garten auf, in dem einem Hans Dieter Conrady erzählt, was er über Prokofiew in Ettal weiß. Und das ist mehr, als man sich mühsam im Internet oder aus alten Programmheften zusammenklauben kann. Denn er wohnt nicht nur in dem Haus, das der Arztfamilie Gennewein aus München gehört, sondern auch exakt in dem Stockwerk, das auch der russische Prominente einst als Beletage bewohnte. Der 1. Stock war für seine Schwiegermutter, darüber das Dachgeschoss für die Bediensteten – heute ein Dreifamilienhaus, sehr schön renoviert und eines der ansehnlichsten Anwesen in Ettal. Die Gedenktafel an der Frontseite hat man schnell gefunden, sie apostrophiert Prokofiew hauptsächlich als den Komponisten des musikalischen Märchens „Peter und der Wolf". Was aber mit dem Aufenthalt in Ettal gar nichts zu tun hat, denn in der Gebirgsidylle hat er große Teile seiner Oper „Der feurige Engel" komponiert, zwei Ballette für den Choreografen Sergej Diaghilew oder die Klaviersonate Nr. 5. Ruhe, eine Idylle hat er zum Komponieren immer gesucht, nach dem finanziellen Fiasko in Chicago ganz besonders: „Seine Hauptwerke komponierte er für gewöhnlich im Sommer, in den Bergen oder an der See, weit weg vom Tumult des Stadtlebens. Er suchte immer Plätze auf, an welchen er in seinem Arbeitsrhythmus nicht gestört wurde und sich ausruhen und lange Spaziergänge machen konnte", berichtet Lina Llubera, Prokofiews erste Frau. Sie meint damit ganz besonders das kleine Bretagne-Dorf St. Brevin-les-Pins und natürlich Ettal. Eigentlich hieß sie Carolina Codina, und als sie 1918 Prokofiew in New York nach einem Konzert in der Carnegie Hall kennenlernte, war der Zusammenstoß mit ihm am Bühneneingang der „Urknall" ihres Lebens. Die Tochter eines katalanischen Tenors und einer polnisch-litauischen Mutter faszinierte Prokofiew sofort, sie wurde zur Gefährtin seiner Wanderjahre: „Und auf dem Ettaler Enzianweg, da hat er sie wohl auch geschwängert", behauptet Hans Dieter Conrady aus seiner Anekdoten-Westentasche. Als die beiden sich in der Villa Christophorus trauen ließen, fühlte die Braut sich schon schlecht – aber erst in Paris wurde der Sohn Svjatoslav geboren, 1928 dann sein Bruder Oleg. Ob es stimmt, dass Arnold Schönberg, der schon 1914 zur Sommerfrische in Murnau und bei den Kollegen von der Bildenden Kunst war, Ettal empfohlen hat, lässt sich nicht nachprüfen, jedenfalls – so Conrady – kam Prokofiew mit dem Auto aus der Bretagne in Ettal an: es war gerade Schneesturm, die Flocken kamen vom Sturm getrieben quer daher, Prokofiew stellte sich an den Kachelofen, der heute noch beheizt wird, und mietete die Gennewein-Villa mit allen drei Stockwerken, direkt gegenüber vom Friedhof und in Sichtweite des mächtigen Klosterbaus. Ein mit ihm befreundeter russischer Schriftsteller wohnte in Oberammergau, und zum Skatspielen ist Prokofiew immer zwischen Ettal und dem Passionsspielort hin- und hergependelt. Kontakte im Ort hat es mit dem großen Russen kaum gegeben, Nachbarn gab es direkt neben der Ettaler Idylle der Gennewein-Villa sowieso kaum. Dafür umso mehr Löwenzahn im Garten: Den Kampf damit „habe ich aufgegeben", bemerkt Prokofiew in seinem Tagebuch. Viel mehr lag ihm an der Aufzucht von Küken. Dafür hatte er sich einen elektrischen Brutkasten bestellt, der stand im Schuppen, den es heute noch gibt – Stubenküken und Hähnchen waren sein Lieblingsessen. Ansonsten gibt es heute von der originalen Einrichtung kaum noch etwas: ein Herd von damals mit den Töpfen steht im Keller, der Kachelofen bei Conradys im Wohnzimmer. Die anderen Möbel wurden später in ein anderes Haus der Genneweins in der Nachbarschaft gebracht, das samt Mobiliar abgebrannt ist. Die Villa Christophorus hatten die Genneweins nicht selbst gebaut, sondern 1902 erworben, und Conrady erzählt aus seinem Erinnerungsschatz besonders gern die Geschichte, dass wohl der Großvater der jetzigen Besitzerin einen der Söhne Thomas Manns auf dem Küchentisch am Blinddarm operiert habe. Die Familie war damals zur Sommerfrische im Klosterhotel Ludwig der Bayer, und Prof. Gennewein vom Münchner Krankenhaus Rechts der Isar musste der chirurgische Nothelfer sein. Beide Familien gingen in die Emigration, die Honorarforderungen blieben ungeklärt, bis Gennewein nach dem Zweiten Weltkrieg den Manns eine Mahnung geschrieben hat. Conrady selbst ist in die Prokofiew-Wohnung durch seine Tochter gekommen. Eigentlich wohnte er in Oberammergau, spielt heute noch im Passions-Orchester, war als Geograf Spezialist fürs Hochgebirge und hat dafür auch EDV-Programme entwickelt. Als das Haus renoviert wurde, hat er sich sofort in die Wohnung verliebt, obwohl ihm das Klima in Ettal eigentlich zu rau war. Dem Russen Prokofiew machte das weniger aus: Im nachkriegs- und inflationsgebeutelten Deutschland waren seine in den USA verdienten Dollars viel wert, und als auch Lina nachkam, fand sie nicht nur ein Vergissmeinnicht-Beet in Form eines „L" vor, sondern auch einen zunächst romantischen Liebhaber, den sie in der Villa heiratete – wie es früher war: heiraten musste. Ein glückliches Ende hat die Ehe nicht gefunden. 1936 zog die Familie wieder dauerhaft in die Sowjetunion, und da wurde die Literaturstudentin Mira Mendelson nicht nur Prokofiews Librettistin sondern auch seine Geliebte. 1948 konnte er sie problemlos heiraten: die Sowjetregierung anerkannte im Ausland geschlossene Ehen nicht – Prokofiew war wieder Junggeselle. (Uwe Mitsching) Lesen Sie den ganzen Beitrag in der Oktober-Ausgabe von Unser Bayern.

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