Unser Bayern

25.11.2011

Olle og'schaut, de Totn

Unser noch unerforschtes Bayern: Bernhard Setzwein überlegt, ob zum Totengedenken der Geruch von Naphtalin gehört


Diesmal versuche ich, keine Possen zu reißen. Ich bleibe ernst – dem Totenmonat November angemessen. Schließlich ist nicht alles lustig im Leben und Anlass für eine Party. Es ist zum Beispiel möglich, ein Totengedenken zu begehen, das nicht darin besteht, sich in ein Vampir- oder sonstiges Gruselkostüm zu werfen, mit idiotischen Plastikkürbissen durch die Gegend zu ziehen und „Süßes oder Saures!" zu grölen. Wenn es eine himmlische Gerechtigkeit gäbe, dann müssten solche Zeitgenossen mit 10 000jähriger Teilzeit-Ewigkeit im Fegefeuer bestraft werden, wo ihnen auferlegt würde, ununterbrochen Halloween feiern und ekelige schleimgrüne Flüssigkeiten trinken zu müssen. Uns wurde als Kindern beigebracht, dass man an Allerheiligen eine bekümmerte Miene aufzusetzen und an die Gräber der lieben Verwandten zu pilgern hat. Damit einen dort leichter die Erinnerungen heimsuchen können, Erinnerungen an eben diese lieben Verwandten, oder zumindest an markante Einzelheiten von ihnen, denn das früh-kindliche Gedächtnis merkt sich ja immer nur Einzelheiten. Zum Beispiel den besonders stacheligen Oberlippenbart der Setzwein-Oma, die mit einer Wonne sondersgleichen ihren lieben Enkelkindern das ganze Gesicht abzubusseln pflegte. Allerheiligen, Volkstrauertag, Buß- und Bettag, Totensonntag – diese Tage mit ihren eigenartigen Riten, Verhaltensweisen und Gerüchen. Plötzlich waren die den Sommer über verschwundenen grauen und schwarzen Wintermäntel wieder da und rochen nach Naphtalin. Der ganze Friedhof roch nach Naphtalin, sogar der vor der Aussegnungshalle aufgestellte Männerchor roch, sobald er die Münder auftat zur Intonierung schrecklicher und auch schrecklich trauriger Lieder, nach Naphtalin. Warum gibt es diese das kindliche Gemüt äußerst nachhaltig beeindruckenden Totenkulte fast nicht mehr? Von einer Halloween-Party jedenfalls wird rein gar nichts im Gedächtnis bleiben. Was ist schon ein ausgehöhlter, illuminierter Kürbiskopf gegen das wächsern-bleiche Gesicht einer aufgebahrten wirklichen Leiche? Und was sind all diese lächerlichen Ekelspeisen aus dem Scherzartikelshop gegen die Leichen-Küchel, die man früher in Altbayern gebacken hat? Kleine Hefeteigfladen waren das, die man zum Aufgehen der Hefe vor dem Ausbacken in heißem Schmalz auf den mit einem Leinentuch bedeckten Körper des aufgebahrten Toten gelegt hat. Ein letztes Mal sollte die nun vergehende Wärme des menschlichen Körpers einen Dienst für die Hinterbliebenen tun. Warum gibt es das alles nicht mehr? Keine Leichenschauhäuser zum Beispiel. Als ich vor Jahren nach Schrobenhausen kam, um dort nach den realen Schauplätzen des übrigens hochinteressanten Schrobenhausen-Romans Das Waisenhaus von Hubert Fichte zu fahnden, musste selbst der Kulturreferent der Stadt Neuburg an der Donau, Dieter Distl, der mir alles zeigen wollte, höchst erstaunt auf dem Schrobenhausener Friedhof ausrufen: „Des gibt’s ned! Des Leichenhaus is weg." Sie hatten es einfach abgerissen. Wir haben dann allerdings noch eine Zeitzeugin gefunden, die über 80jährige Franziska Lenk, die sich genau an das erinnerte, was auch Hubert Fichte in seinem Roman beschreibt. Dass es nämlich damals gang und gäbe war, dass die Kinder der Stadt als Sieben-, Acht-, Neunjährige heimlich zum Leichenschauhaus liefen, wenn dort wieder eine „frische Leich’" aufgebahrt war. Und was Franziska Lenk dann noch sagte, würde ich gerne allen Kuschelpädagogen ins Stammbuch schreiben. Sie sagte über das Leichenschauhaus von Schrobenhausen: „Des war als Kinder unser Zufluchtsort. Mia homma olle og’schaut, de Totn. Mir homma uns gstreckt und wos hingetan, damit ma bessa neiseh’n." Kinder halten nämlich allerhand aus. Nicht nur den wirklich schauerlichen Naphtalingeruch, sondern auch Anblicke, die sich kein Erwachsener mehr zutraut. Denn zum Schluss meinte Franziska Lenk, die couragierte, noch: „Mia homma des ja oiwei og’schaut. Heit taat i’s nimma!" (Bernhard Setzwein)

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